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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Campus. Aber wenn ein Campus auch eine Art Fabrik sein konnte, deren Bevölkerung größtenteils reihenweise in großen, stickigen Zimmern saß und im Grunde genommen Tag für Tag denselben Tätigkeiten nachging, dann konnte man die Fertigungsanlage auch aus diesem Grund als Campus bezeichnen.
    Hackworth machte einen Umweg durch die Merkle-Halle. Diese war im gotischen Stil erbaut und sehr groß, wie der überwiegende Teil der Fertigungsanlage. Die Gewölbedecke war mit einem Fresko aus Farbe auf Verputz geschmückt. Da das gesamte Gebäude, mit Ausnahme des Freskos, direkt aus dem Feeder stammte, wäre es einfacher gewesen, ein Mediatron in die Decke einzubauen, das ein SoftFresko zeigte, welches man von Zeit zu Zeit hätte austauschen können. Aber die Neoviktorianer benutzten fast nie Mediatrone. HardKunst erforderte die Hingabe des Künstlers. Man hatte nur einen Versuch, und wenn man den vermasselte, mußte man mit den Folgen leben.
    Den Mittelpunkt des Freskos bildete eine Schar kybernetischer Cherubim, jeder mit einem sphärischen Atom auf den Schultern, die sich einem zentralen Bauprojekt näherten, einer Konstruktion aus mehreren hundert Atomen in sternförmiger Symmetrie, die möglicherweise wie ein Kugellager oder ein Motor aussehen sollte. Über der gesamten Darstellung wachte riesig, aber eindeutig nicht maßstabsgetreu, ein Ingenieur im weißen Laborkittel, der ein Nanophänomenoskopmonokel um den Kopf geschnallt hatte. Niemand benutzte sie jemals, weil man keine Tiefenschärfe bekam, aber auf dem Fresko machte es sich besser, weil man so das andere Auge des Ingenieurs sehen konnte: stahlblau, geweitet, wie es die Unendlichkeit erforschte gleich dem Stahlokular von Arecibo. Mit einer Hand strich der Ingenieur über seinen gewichsten Schnurrbart. Die andere hatte er in einen Nanomanipulator geschoben, und durch die glorifizierende Übertreibung bombastischen Trompe-l'oeils wurde nur allzu deutlich gemacht, daß die atomeschleppenden Cherubim alle nach seiner Pfeife tanzten - der Ingenieur als Neptun, sie die Najaden.
    Die Ecken des Freskos zierten verschiedene Szenen; in der linken oberen verweilten Feynman und Drexler und Merkle, Chen und Singh und Finkle-McGraw auf einem überlebensgroßen Buckyball; einige lasen Bücher, andere zeigten in einer konstruktive Kritik andeutenden Weise auf die fortschreitende Arbeit. In der rechten oberen Ecke war Queen Victoria II. zu sehen, der es gelang, trotz ihrer protzigen Sitzgelegenheit, einem Thron aus massivem Diamant, verklärt auszusehen. Am unteren Rand des Kunstwerks drängten sich, chronologisch angeordnet, zahlreiche kleinere Gestalten, in der Mehrzahl Kinder, dazwischen vereinzelte leidgeprüfte Mütter. Links die Seelen vergangener Generationen, zu früh aufgekreuzt, um die Wohltaten der Nanotechnologie zu genießen, und (was nicht explizit gezeigt, aber auf morbide Weise angedeutet wurde) eingegangen an überholten Ursachen wie: Krebs, Skorbut, Boilerexplosionen, entgleisenden Zügen, Amokschützen, Pogromen, Blitzkriegen, Grubenunglücken, ethnischen Säuberungen, Reaktorunfällen, in Scheren stürzen, Abflußreiniger schlucken, kalte Häuser mit Steinkohlebricketts heizen und von Stieren durchbohrt werden. Überraschenderweise sah keiner ungehalten aus; alle beobachteten die Aktivitäten des Ingenieurs und seiner emsigen Cherubim, derweil ihre pausbäckigen, aufwärts gerichteten Gesichter von dem aus der Mitte entspringenden Lichtschein erhellt wurden, den (wie Hackworth, der Ingenieur, mutmaßte) die frei werdende Bindungsenergie der Atome erzeugte, wenn sie in ihre jeweiligen Potentialbrunnen hinabstießen.
    Die Kinder in der Mitte wandten Hackworth den Rücken zu, waren überwiegend als Silhouetten dargestellt, sahen direkt in die Höhe und streckten die Arme dem Licht entgegen. Die Kinder rechts unten bildeten das Gegengewicht zu der Engelsschar unten links; sie waren die Seelen der ungeborenen Kinder, die noch in den Genuß der Arbeit des Ingenieurs kommen würden, und allesamt aussahen, als könnten sie es gar nicht erwarten, geboren zu werden. Ihr Hintergrund bildete ein leuchtender, wallender Schleier, dem Nordlicht nicht unähnlich, bei dem es sich in Wirklichkeit um die Fortsetzung des bauschigen Rocks von Victoria II. auf ihrem Thron darüber handelte.
    »Pardon, Mr. Cotton«, sagte Hackworth fast
sotto voce.
Er hatte selbst einige Jahre hier gearbeitet und kannte die Etikette. Hundert Ingenieure, ordentlich in Reihen gruppiert, saßen in

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