Diaspora
ein festes Objekt durch den normalen Raum bewegte, sondern jede Bewegung schien eine schimmernde Deformation an der vorderen Hyperfläche nach sich zu ziehen, ein sichtbarer Prozeß der Auflösung und Rekonstruktion.
Karpal führte ihn weiter durch den geheimnisvollen Ozean. Es gab spiralig gewundene Würmer, die sich in Gruppen von unbestimmbarer Anzahl ineinander verschlungen hatten. Jedes einzelne Geschöpf zerfiel in ein Dutzend oder mehr zappelnde Scheiben, um sich anschließend zu rekombinieren … allerdings nicht immer aus den ursprünglichen Bestandteilen. Es gab betörende vielfarbige Blüten ohne Stiel, komplexe Hyperkegel aus spinnwebdünnem fünfzehndimensionalen Blütenblättern – jedes ein hypnotisches fraktales Labyrinth aus Spalten und Kapillaren. Es gab klauenbewehrte Monstrositäten, sich windende Bündel aus scharfen insektoiden Teilen, wie eine Orgie aus enthaupteten Skorpionen.
»Du könntest den anderen eine vereinfachte Darstellung in nur drei Dimensionen zeigen«, sagte Paolo unsicher. »Gerade soviel, um ihnen zu verdeutlichen, daß es hier drinnen … Leben gibt. Doch es wird sie schwer erschüttern.« Leben, das in die zufälligen Rechenvorgänge der Wang-Teppiche eingebettet war, ohne irgendeine Möglichkeit, jemals mit der äußeren Welt in Beziehung zu treten. Das war ein Affront gegen die gesamte Philosophie von Carter-Zimmerman: Wenn die Natur ›Organismen‹ hervorgebracht hatte, die von der Realität genauso weit isoliert waren wie die Bewohner der autistischsten Poleis, wo blieb dann der privilegierte Status des Universums, die klare Unterscheidung von Wirklichkeit und Illusion? Und wie würde man auf der Erde reagieren, nachdem man dreihundert Jahre lang auf gute Nachrichten von der Diaspora gewartet hatte?
«Ich muß dir noch etwas zeigen«, sagte Karpal.
Er hatte die Geschöpfe aus offensichtlichen Gründen ›Kalmare‹ genannt. Sie bearbeiteten sich gegenseitig mit ihren Tentakeln auf eine Weise, die äußerst sinnlich wirkte. »Hier gibt es kein Analogon zum Licht«, erklärte Karpal. »Wir betrachten all diese Vorgänge nach Ad-hoc-Regeln, die nichts mit der tatsächlich hier herrschenden Physik zu tun haben. All diese Geschöpfe gewinnen nur durch Berührung Informationen voneinander – was eine sehr umfassende Methode zum Datenaustausch ist, da sie in so vielen Dimensionen stattfindet. Was du siehst, ist taktile Kommunikation.«
»Was wird kommuniziert?«
»Nur Klatsch und Tratsch, vermute ich. Soziale Beziehungen.«
Paolo starrte auf die wimmelnde Masse aus Tentakeln.
»Du glaubst, daß sie Bewußtsein besitzen?«
Karpal war ein grinsender Punkt. »Sie besitzen eine zentrale Kontrollstruktur mit einer höheren Konnektivität als im Gehirn eines Bürgers. Damit korrelieren sie Daten, die über die Haut gesammelt wurden. Ich habe dieses Organ untersucht und mit einer Analyse seiner Funktion begonnen.«
Er führte Paolo in eine andere Landschaft, eine Darstellung der Datenstrukturen im ›Gehirn‹ eines Tintenfischs. Es war – zu Paolos Erleichterung – dreidimensional und stark abstrahiert. Farbig leuchtende Blöcke stellten mentale Symbole dar, die durch dicke Linien verbunden waren, um die wichtigsten Beziehungen anzudeuten. Paolo hatte ähnliche Mentaldiagramme von Polis-Bürgern gesehen; dieses war nicht so kompliziert, aber dennoch auf unheimliche Weise vertraut.
»Hier ist das Wahrnehmungsschema für die Umgebung«, sagte Karpal. »Hauptsächlich die Körper anderer Kalmare sowie vage Daten über die letzten bekannten Positionen einiger kleinerer Geschöpfe. Aber du wirst sehen, daß die Symbole, die durch die physische Präsenz anderer Kalmare aktiviert werden, mit diesen« – er berührte die Stelle mit einem Finger – »Repräsentationen verbunden sind. Die wiederum grobe Miniaturen dieser gesamten Struktur darstellen.«
›Diese gesamte Struktur‹ war eine Anordnung, die mit Gestalt-Etiketten für Erinnerungsvorgänge, simple Tropismen oder kurzfristige Ziele ausgestattet war. Die allgemeinen Dinge, die zum Sein und Tun gehörten.
»Der Kalmar besitzt Schemata, nicht nur für die Körper anderer Kalmare, sondern auch für deren Geist. Ganz gleich, ob sie richtig oder falsch sind, er strebt ganz offensichtlich nach Erkenntnis über das, was die anderen denken. Und« – er zeigte auf eine andere Gruppe von Verbindungen, die zu einem anderen, nicht so unfertig wirkenden Kalmar-Geist führten – »er denkt auch über seine eigenen Gedanken
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