Diaspora
seine.«
»Das hätte ich anders gesehen.«
»Es scheint so.«
Paolo verstummte verwirrt. Wie sollte er um eine ferne Version von Orlando trauern, wenn er sich in der Gegenwart derjenigen befand, die er für real hielt? Der Tod eines Klons war ein seltsamer Halb-Tod, etwas, das nur schwer zu verarbeiten war. Sein Erden-Ich hatte einen Vater verloren; sein Vater hatte ein Erden-Ich verloren. Was genau bedeutete das für ihn?
Was Orlando am meisten am Herzen zu liegen schien, war die Kultur von C-Z Erde. Paolo sagte behutsam: »Hermann hat mir erzählt, daß die Emigrations- und Suizidrate gestiegen ist. Aber die Moral hat sich erheblich verbessert, seit das Spektroskop Anzeichen für Wasser auf Orpheus registriert hat, und wenn man erfährt, daß es mehr als nur Wasser ist …«
Orlando schnitt ihm das Wort ab. »Du brauchst die Dinge nicht für mich schönzureden. Ich schwebe nicht in Gefahr, die Tat zu wiederholen.«
Sie standen auf dem Rasen und blickten sich an. Paolo stellte ein Dutzend verschiedene Stimmungskombinationen zusammen, die er übermitteln wollte, doch keine fühlte sich richtig an. Er hätte seinem Vater vollständig kommunizieren können, was er empfand – aber was genau würde ihm dieses Wissen sagen? Im Endeffekt gab es nur die Fusion oder die Separation. Dazwischen existierte nichts.
Orlando sagte: »Ich soll mich töten – und dann das Schicksal der Koalition in deine Hände geben? Du mußt völlig den Verstand verloren haben!«
Sie spazierten lachend weiter.
Karpal schien kaum in der Lage, seine Gedanken so weit zu sammeln, daß er sprechen konnte. Paolo hätte ihm ein Emotiogramm angeboten, das Ruhe und Konzentration vermittelte – aus seinen eigenen ausgeglichensten Zuständen destilliert –, doch er war überzeugt, daß Karpal es niemals angenommen hätte. Er sagte: »Warum fängst du nicht einfach irgendwo an? Ich werde dich bremsen, wenn du Unsinn redest.«
Karpal blickte sich mit ungläubigem Ausdruck im weißen Dodekaeder um. »Du lebst hier?«
»Einen Teil meiner Zeit.«
»Ich meine, das ist deine Privatlandschaft? Keine Bäume? Kein Himmel? Keine Möbel?«
Paolo verzichtete darauf, einen von Hermanns naiven Roboter-Witzen zu wiederholen. »Ich füge sie hinzu, wenn ich sie benötige. Du weißt schon … genauso wie Musik. Aber laß dich bitte nicht von meinem Einrichtungsgeschmack ablenken …«
Karpal produzierte einen Sessel und ließ sich hineinfallen.
Er sagte: »Hao Wang hat vor zweitausenddreihundert Jahren ein überzeugendes Theorem bewiesen. Stell dir eine Serie von Wang-Kacheln als das Datenband einer Turing-Maschine vor.« Paolo machte sich mit Hilfe der Bibliothek mit diesem Begriff vertraut. Es handelte sich um die ursprüngliche Konzeption einer allgemeinen Rechenmaschine, eines imaginären Systems, das sich entlang eines unbegrenzten eindimensionalen Datenbandes vor und zurück bewegte, um nach vorgegebenen Regeln Symbole zu lesen und zu schreiben.
»Mit der richtigen Menge von Kacheln für das richtige Muster wird die nächste Kachelreihe genauso wie das Datenband aussehen, nachdem die Turing-Maschine einen Rechenschritt vollzogen hat. Und die Reihe danach ist das Datenband nach zwei Schritten und so weiter. Für jede gegebene Turing-Maschine gibt es eine Menge von Wang-Kacheln, die sie imitieren kann.«
Paolo nickte freundlich. Er hatte noch nie von diesem speziellen kuriosen Resultat gehört, aber es überraschte ihn keineswegs. »Die Teppiche dürften in jeder Sekunde Milliarden von Rechenvorgängen ausführen … aber das gleiche gilt für die Wassermoleküle, von denen sie umgeben sind. Es gibt keine physikalischen Prozesse, die nicht irgendwelche arithmetischen Funktionen ausführen.«
»Richtig. Aber bei den Teppichen ist es nicht ganz dasselbe wie im Fall chaotischer Molekularbewegungen.«
»Vielleicht.«
Karpal lächelte, sagte aber nichts.
»Was ist? Hast du ein Muster entdeckt? Sag mir nicht, daß unsere zwanzigtausend Wang-Kacheln aus Polysacchariden zufällig die Turing-Maschine für die Berechnung von Pi darstellen!«
»Nein. Was sie dagegen darstellen, ist eine universelle Turing-Maschine. Sie können alles Beliebige berechnen – je nach den Daten, mit denen sie beginnen. Jedes Tochterfragment ist wie ein Programm, das von einem chemischen Computer eingelesen wird. Das Wachstum führt das Programm aus.«
»Aha.« Paolos Neugier war geweckt, aber er hatte einige Schwierigkeiten damit, sich vorzustellen, wo sich der
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