Diaspora
stellen.«
FÜNFTER TEIL
Yatima sagte: »Swift kennen sie aus eigener Anschauung. Obwohl sie vermutlich von einigen der Veränderungen seit ihrer Abreise überrascht wären.«
Paolo fügte trocken hinzu: »Und wie lange wir gebraucht haben, die Ablenkungen zu durchschauen!«
»Niemand ist vollkommen.« Yatima zögerte. »Ich hatte mehr mit den technischen Aspekten zu tun als du, aber ich brauche dich trotzdem, um einige Teile zusammenzufügen.«
»Warum?« Paolo schaukelte unruhig um die Strebe herum, an der er sich festhielt.
»Werden wir ihnen sagen, was auf Poincaré geschah?«
»Natürlich.«
»Dann müssen sie mehr über Orlando erfahren.«
12 Schwere
Carter-Zimmerman-Polis, interstellarer Raum
85 274 532 121 904 KSZ
4. Juli 4936, 1:15:19.058 WZ
Orlando Venetti wachte zum zwölften Mal innerhalb von neun Jahrhunderten auf, mit klarem Kopf und voller Hoffnung, weil er überzeugt war, daß C-Z Voltaire das Ziel erreicht hatte. Seine bisherigen Weckrufe waren allesamt durch Bulletins von anderen Klonen der Polis ausgelöst worden, doch als er das letzte Mal eingeschlafen war, hatte er gewußt, daß keine weiteren Nachrichten zu erwarten waren. Jetzt war es an Voltaire, Schlagzeilen zu machen – auch wenn es vielleicht nur darauf hinauslief, den Katalog der Enttäuschungen seit Orpheus um eine weitere leblose Welt zu ergänzen.
Er drehte sich herum und warf einen Blick auf die Uhr neben seinem Bett, deren leuchtende Ziffern in der Dunkelheit des Raumes körperlos wirkten. Es waren noch siebzehn Jahre bis zur Ankunft. In einem anderen C-Z-Klon mußte jemand eine verspätete Entdeckung gemacht haben, die sein Exo-Ich für wichtig genug hielt, um ihn zu wecken. Orlando fühlte sich betrogen. Er hatte allmählich die Begeisterungsfähigkeit für die Entdeckungen der anderen Poleis verloren, die Lichtjahre und Jahrzehnte entfernt stattgefunden hatten.
Er lag eine Weile fluchend da, bis die Erinnerung an einen Traum zurückkehrte. Liana und Paolo hatten im Haus in Atlanta mit ihm diskutiert, und beide hatten ihn davon zu überzeugen versucht, daß Paolo Lianas Sohn war. Liana hatte ihm sogar Bilder von der Geburt gezeigt. Als Orlando versucht hatte, die Psychogenese zu erklären, hatte Paolo geschmunzelt und erwidert: »Versuch mal, so etwas im Reagenzglas zu machen!« Orlando hatte dann erkannt, daß ihm keine andere Wahl blieb: Er würde ihnen von Lacerta erzählen müssen. Und obwohl er sich eingebildet hatte, daß Paolo unbeschadet davonkommen würde, wußte er nun, daß es unmöglich war. Auch Paolo war körperlich. Die Roboter würden drei verkohlte Leichen in den Ruinen finden.
Orlando schloß die Augen und wartete, daß der Schmerz nachließ. Er hatte Paolo gesagt, daß er die ganze Reise eingefroren verbringen würde, völlig unbeweglich, doch er hatte nicht jedem mitgeteilt, daß er statt dessen träumen wollte. Eine weise Entscheidung, wenn man Fomalhaut berücksichtigte. Der schlummernde Klon hätte sich offiziell als separates Individuum abgespalten; das garantierte das zufällige Rauschen in der Verkörperungssoftware, auch wenn es keine unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen gab. Für Orlando war es jedoch etwas anderes als der Tod, denn selbst der Selbstmord seines wachen Erden-Ichs fiel nicht in diese Kategorie. Er hatte schon immer die Absicht gehabt, am Ende der Diaspora mit jedem Klon zu fusionieren, der dazu bereit war, und der Verlust von ein paar Versionen erschien ihm nicht tragischer, als hätte er seine Erinnerung an ein oder zwei Tage unter Tausenden verloren.
Er verließ den Raum und lief barfuß durch das kühle Gras bis zum Rand der fliegenden Insel. Die Landschaft war düster wie eine mondlose Nacht auf der Erde, doch der Boden war eben und der Weg ihm vertraut. Er hatte bereitwillig auf das langweilige Geschäft der Defäkation verzichtet, aber das Vergnügen, seine Blase zu entleeren, wollte er genausowenig aufgeben wie die Möglichkeit zum Sex. Beide Akte waren völlig willkürlich, nachdem sie nun von jedem biologischen Imperativ losgelöst waren, aber das näherte sie um so mehr anderen bedeutungslosen Vergnügungen wie zum Beispiel Musik an. Wenn Beethoven es verdient hatte, die Zeiten zu überdauern, dann galt das gleiche für das Urinieren. Er beschrieb Lissajoussche Figuren mit dem Strahl, während er in der Sternendunkelheit unter dem Felsvorsprung verschwand.
Er hatte Paolo nur wenig von seiner eigenen Natur aufgedrängt – wie jeder gute Mittler
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