Diaspora
um sie voneinander zu isolieren.
Yatima färbte den gesamten Torus in abgestuften Grünschattierungen ein, um die versteckte vierte Koordinate anzudeuten. Die inneren und äußeren Oberflächen des ›Zylinders‹ hatten nur am oberen und unteren Rand dieselbe Farbe, wo sie sich in der vierten Dimension trafen. An allen anderen Stellen bewiesen die unterschiedlichen Farbtöne, daß sie voneinander getrennt waren.
»Sehr hübsch«, sagte Radiya. »Kannst du dasselbe auch mit einer Sphäre machen?«
Yatima verzog verzweifelt das Gesicht. »Ich habe es versucht! Intuitiv betrachtet scheint es unmöglich zu sein – aber dasselbe hätte ich auch vom Torus behauptet, bevor ich den richtigen Trick fand.« Noch während hie sprach, schuf hie eine Kugel, um sie zu einem Würfel zu deformieren. Nicht gut, dachte hie – damit verschob man lediglich alle Krümmungen in die Singularitäten der Ecken, ohne sie verschwinden zu lassen.
»Ich gebe dir einen Hinweis«, sagte Radiya und verwandelte den Würfel in eine Kugel zurück und zeichnete drei schwarze Großkreise auf die Oberfläche: einen Äquator und zwei vollständige Meridiane, die um 90 Grad gegeneinander versetzt waren.
»In was habe ich die Oberfläche aufgeteilt?«
»In Dreiecke. Acht Dreiecke.« Vier auf der nördlichen Hemisphäre und vier auf der südlichen.
»Und was immer du mit der Oberfläche anstellst – ob du sie beugst, streckst oder sie in tausend weitere Dimensionen verdrehst – du wirst immer in der Lage sein, sie auf dieselbe Weise aufzuteilen, nicht wahr? Acht Dreiecke zwischen sechs Punkten, richtig?«
Yatima experimentierte und deformierte die Kugeloberfläche in verschiedene Strukturen. »Ich glaube, du hast recht. Aber wie sollte mir das helfen?«
Radiya gab keine Antwort. Yatima machte das Objekt transparent, damit hie alle Dreiecke gleichzeitig sehen konnte. Sie bildeten ein grobes Gitter, ein Netz mit sechs Knotenpunkten, einen geschlossenen Beutel aus Fäden. Hie begradigte alle zwölf Linien, wodurch die Dreiecke tatsächlich flacher wurden, aber gleichzeitig wurde die Kugel zu einem Oktaeder transformiert, was genauso ungeeignet wie ein Würfel war. Jede Dreiecksfläche war völlig euklidisch, aber die sechs Eckpunkte blieben unendlich konzentrierte Rückstände der Krümmung.
Hie versuchte es damit, die sechs Punkte zu glätten. Das war kein Problem, aber damit wurden die acht Dreiecke wieder genauso gebogen und nicht-euklidisch wie auf der ursprünglichen Sphäre. Es schien ›offensichtlich‹ zu sein, daß sich die Punkte und die Krümmungen nicht gleichzeitig aufheben ließen – doch Yatima konnte immer noch nicht den Grund benennen, warum diese beiden Ziele nicht miteinander zu vereinbaren waren. Hie maß den Winkel, wo sich alle vier Dreiecke trafen, an dem Punkt, der zuvor eine Ecke des Oktaeders gewesen war: 90, 90, 90, 90. Das war völlig logisch: Wenn sie eben waren und sich ohne Lücken trafen, mußten sie sich zu 360 Grad addieren. Dann kehrte hie zur unverzerrten Oktaederform zurück und maß erneut die Winkel: 60, 60, 60, 60. Eine Summe von 240 war zu klein, um sie auf einer Ebene zu realisieren. Alles, was weniger als ein voller Kreis war, zwang die Oberfläche dazu, sich wie eine Kegelspitze zu krümmen …
Das war es! Das war der Kern des Widerspruchs! Jeder Eckpunkt war von Winkeln umgeben, die 360 Grad ergeben mußten, wenn sie flach sein sollten – während jedes flache euklidische Dreieck nur 180 Grad ergab. Genau die Hälfte. Wenn es also genau doppelt so viele Dreiecke wie Eckpunkte gäbe, würde die Rechnung aufgehen – aber mit sechs Ecken und nur acht Dreiecken ließ sich die Krümmung niemals ausgleichen.
Yatima grinste triumphierend und trug seine Argumentation vor. »Gut«, sagte Radiya ruhig. »Du hast gerade das Gauß-Bonnet-Theorem entdeckt, das die Eulersche Zahl mit der totalen Krümmung verknüpft.«
»Wirklich?« Yatima verspürte einen gewissen Stolz. Euler und Gauß waren legendäre Wissenssucher, die als Körperliche schon lange tot waren, aber ihr Genie war selten übertroffen worden.
»Nicht ganz.« Radiya lächelte leicht. »Du solltest unbedingt die genaue Argumentation nachschlagen. Ich glaube, du bist jetzt bereit für die Einführung in riemannsche Räume. Doch wenn es dir zu abstrakt wird, hab keine Angst, diesen Stoff zurückzustellen und dich zunächst mit einigen weiteren Beispielen zu beschäftigen.«
»Gut.« Radiya mußte Yatima nicht sagen, daß diese Lektion damit
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