Diaspora
Baumdiagramm, worauf eine zweite Gruppe von Ästen hinter und zwischen den ersten zu wachsen begann. Der neue Baum war viel feiner differenziert; die zahlreicheren Äste ließen weniger Zwischenraum.
»Unser Ausgangspunkt waren die neuralen Strukturen unserer Vorfahren. Dann haben wir in jeder Generation kleine Veränderungen eingefügt. Doch statt jeden in dieselbe Richtung zu modifizieren, sind unsere Kinder nicht nur von ihren Eltern verschieden, sondern zunehmend auch untereinander. Jede Generation weist eine größere Diversität als die vorige auf.«
Inoshiro sagte: »Aber … ist das nicht genau das, was du gerade beklagt hast? Wenn Menschen sich auseinander entwickeln?«
»Nicht unbedingt. Anders als komplette Populationen, die en masse zu entgegengesetzten Enden des Spektrums einer bestimmten neuralen Eigenschaft springen – und damit zwei verschiedene Gruppen ohne gemeinsame Basis entstehen lassen –, sind wir jederzeit gleichmäßig über die gesamte Spannweite verteilt. Auf diese Weise ist niemand isoliert oder entfremdet, weil der ›Kreis‹ jeder Person – die Gruppe der Menschen, mit denen jemand mühelos kommunizieren kann – sich immer mit dem Kreis von anderen überlappt, die außerhalb des ersten Kreises stehen … deren Kreise sich wiederum mit anderen berühren und so weiter … bis es auf irgendeine Art und Weise immer eine Verbindung gibt.
Unter uns lassen sich mühelos zwei Menschen finden, die sich gegenseitig kaum verstehen – weil sie sich genauso unterscheiden wie Vitale aus zwei stark abweichenden Linien –, aber hier gibt es immer eine Kette lebender Verwandter, die den Abgrund überbrücken können. Mit ein paar Bindegliedern – im Augenblick sind es niemals mehr als vier – kann jeder Mittler mit jedem anderen kommunizieren.«
»Und irgendwann«, fügte Orlando hinzu, »gibt es unter uns Menschen, die mit allen verstreuten Gemeinschaften der Vitalen interagieren können …«
»Dann werden alle Körperlichen auf diesem Planeten wieder auf irgendeine Weise miteinander verbunden sein.«
»Also könntet ihr eine Kette von Personen bilden«, fragte Inoshiro interessiert, »über die wir mit jemandem reden könnten, der sich an einer weit entfernten Front befindet? Jemand, der mit der entlegensten Gruppe von Vitalen Kontakt aufnehmen könnte?«
Orlando und Liana tauschten einen Blick, dann sagte Orlando: »Wenn ihr ein paar Tage wartet, wäre das vielleicht möglich. Dazu wäre ein gewisses Maß an Diplomatie nötig. Es ist kein Partytrick, den wir aus dem Stegreif vorführen können.«
»Wir werden morgen früh zurückkehren.« Yatima wagte es nicht, sich zu Inoshiro umzuschauen. Es gäbe jede Menge Ausreden, um ihren Aufenthalt zu verlängern, aber sie hatten sich auf vierundzwanzig Stunden geeinigt.
Nach einem kurzen bedrückten Schweigen sagte Inoshiro ruhig: »Das ist richtig. Vielleicht beim nächsten Mal.«
Orlando führte sie durch die Genschmiede, in der er daran arbeitete, DNS-Sequenzen zusammenzustellen und ihre Auswirkungen zu testen. Neben ihrem Hauptziel waren die Mittler mit verschiedenen nicht-neuralen Verbesserungen beschäftigt, bei denen es um Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten und beschleunigte Regeneration von Gewebe ging. Diese Versuche ließen sich verhältnismäßig leicht an Konglomeraten von hirnlosen vegetativen Säugetierorganen durchführen, die Orlando scherzhaft als ›Einge-Weide‹ bezeichnete. »Und ihr könnt wirklich nichts riechen? Ihr wißt gar nicht, wie glücklich ihr euch schätzen dürft.«
Die Mittler, erklärte er, hatten sich so modifiziert, daß jedes Individuum Teile heines eigenen Genoms umschreiben konnte, indem hie sich die neue Sequenz – von geeigneten Primern für die Transkriptionsenzyme flankiert und in eine Lipidkapsel mit Oberflächenenzymen gehüllt, die auf die entsprechenden Zelltypen abgestimmt waren – in den Blutkreislauf injizierte. Wenn die Vorläufer von Keimzellen das Ziel darstellten, wurde die Modifikation erblich. Weibliche Mittler erzeugten nicht mehr ihre sämtlichen Ova im Embryonalzustand, wie es bei den Statischen geschah, sondern ließen sie erst wachsen, wenn sie benötigt wurden. Die Produktion von Ova und Spermien – ganz zu schweigen von der Vorbereitung der Gebärmutter auf die Implantation einer befruchteten Eizelle – lief nur dann an, wenn die richtigen Hormone in Form speziell modifizierter Pflanzen mit der Nahrung aufgenommen wurden. Etwa zwei Drittel der Mittler waren
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