Diaspora
nicht, wie sie es anstellen sollte.
Um ein Uhr war die Energie der Lacerta-Wellen auf das Hundertfache ihres alten Wertes angestiegen. Es war sinnlos geworden, darauf zu warten, daß neue Daten von anderen verstreuten TERAGO-Detektoren eintrafen, um jede Interferenz durch andere Quellen auszuschließen. Sie wurden mittlerweile direkt von Bullialdus in Realzeit übertragen, und der rasende Pulsschlag von Lac G-1 war nun laut genug, um alles andere am Himmel zu übertönen. Die Wellen ›zirpten‹ sichtlich. Jede Periode war eindeutig enger als ihr Vorgänger; die letzten zwei Spitzen lagen nur noch fünfzehn Minuten auseinander, was bedeutete, daß die Entfernung der Neutronensterne die 200.000-Kilometer-Marke unterschritten hatten. In einer Stunde würde sich dieser Abstand halbiert haben, um dann einige Minuten später auf Null zu schrumpfen. Yatima hatte sich an eine vage Hoffnung geklammert, daß sich eine Veränderung der Dynamik ergab, doch die immer steileren Kurven der Extrapolationen durch die Gleisner hatten sich als absolut zutreffend erwiesen.
Der Sitz wackelte. Ein halbnacktes Kind zerrte an der Seite, um heine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Yatima starrte es sprachlos an. Hie hatte das Bedürfnis, heinen unverwundbaren Polymerkörper um die bloße Haut des Kindes zu hüllen. Hie sah sich auf dem verlassenen Spielplatz nach einem Erwachsenen um, doch es war niemand in der Nähe.
Yatima stand auf. Das Kind begann unvermittelt zu weinen und zu schreien. Hie setzte sich, stand wieder auf, versuchte das Kind mit dem einen Arm aufzuheben, was mißlang. Das Kind schlug mit der Faust auf den leeren Sitz. Yatima gehorchte.
Das Kind kletterte auf heinen Schoß. Yatima beobachtete nervös die TERAGO-Landschaft. Das Kind streckte die Arme aus und hielt sich an den Seilen fest, um sich dann ein wenig zurückzulehnen. Yatima imitierte die Bewegung, worauf der Sitz reagierte. Das Kind beugte sich vor, Yatima ebenfalls.
Sie schaukelten gemeinsam, immer höher, und das Kind kreischte vor Begeisterung, während Yatima zwischen Entsetzen und Vergnügen hin und her gerissen war. Ein paar vereinzelte Regentropfen fielen, dann teilten sich die Wolken rings um die Sonne.
Die plötzliche Klarheit des Lichtes war schockierend. Als Yatima über den sonnigen Spielplatz blickte – während hein Blickwinkel nun endlich scheinbar mühelos durch die Welt schwang –, empfand hie ein überwältigendes Gefühl der Hoffnung. Es war, als wäre im Konishi-Mentalkeim immer noch das instinktive Wissen codiert, daß sich irgendwann auch die düstersten Sturmwolken verflüchtigten, daß auch auf die längste Nacht irgendwann der Morgen folgte, daß auch der härteste Winter irgendwann vom milden Frühling abgelöst würde. Jede Erschwernis, die die Erde ihren Bewohnern auferlegte, war begrenzt, zyklisch und letztlich ertragbar. Jedes körperlich geborene Geschöpf trug in sich die Gene eines Vorfahren, der die schwersten Katastrophen dieser Welt unbeschadet überstanden hatte.
Doch all das galt nun nicht mehr. Das Sonnenlicht, das durch die Wolken brach, war jetzt nur noch eine Lüge, jeder Instinkt, der behauptete, die Zukunft könnte nicht schlimmer sein als die schlimmsten Zeiten der Vergangenheit, wertlos geworden. Yatima hatte schon vor langer Zeit erkannt, daß das Universum außerhalb der Poleis launisch und ungerecht war. Aber es hatte nie zuvor eine Rolle gespielt. Es hatte hie niemals berührt.
Hie traute sich nicht, die Pendelbewegung auf sichere Weise anzuhalten, also erstarrte hie einfach und wartete ab, bis sie von selbst aufhörte – ohne auf die Beschwerden des Kindes zu hören. Dann trug hie das kreischende Bündel zum nächsten Gebäude, wo jemand zu wissen schien, wohin es gehörte, und es hie wütend aus den Händen riß.
Die Sturmwolken hatten sich wieder geschlossen. Yatima kehrte zum Spielplatz zurück und stand reglos da, während hie den Himmel beobachtete, um die neuen Grenzen der Dunkelheit zu erfahren.
Die Neutronensterne vollendeten ihren letzten vollen Orbit in weniger als fünf Minuten, 100.000 Kilometer voneinander entfernt in einer immer enger werdenden Spiralbahn. Yatima wußte, daß hie Zeuge der letzten Momente eines Prozesses wurde, der vor fünf Milliarden Jahren begonnen hatte, doch in kosmischen Maßstäben so selten und bedeutend war wie der Tod einer Eintagsfliege. Gammawellen-Observatorien empfingen die Signaturen identischer Ereignisse in anderen Galaxien etwa fünfmal am
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