Diaspora
mußte erheblichen Mut erfordert haben, denn sie würden ihn bei einer möglichen Rückkehr niemals willkommen heißen.
Paolo sagte: »Spielt es eine Rolle, was sie tun? Wohin sie gehen, wie sie dorthin gelangen? Für sie und uns ist genügend Platz vorhanden. Selbst wenn sie die Diaspora übertreffen – selbst wenn sie ins Wega-System kommen –, könnten wir das Orpheus-Leben doch gemeinsam beobachten, nicht wahr?«
Hermanns Cartoon-Insektengesicht täuschte Entsetzen vor; die Augen wurden größer und wichen weiter auseinander. »Nicht wenn sie einen Weißen Zwerg im Schlepptau haben! Als nächstes kommen sie noch auf die Idee, eine Dyson-Sphäre zu bauen.« Er wandte sich wieder an Karpal. »Du verspürst nicht zufällig immer noch den Drang nach … astrophysikalischem Maschinenbau?«
»Was davon noch übrig war, konnte ich durch unsere Ausbeutung mehrerer Megatonnen weganischer Asteroiden befriedigen.«
Paolo versuchte das Thema zu wechseln. »Hat jemand in letzter Zeit etwas von der Erde gehört? Ich fühle mich allmählich recht isoliert.« Seine jüngste Botschaft war ein Jahrzehnt älter als die zeitliche Verzögerung.
»Du verpaßt nicht viel«, sagte Karpal. »Man redet dort nur über Orpheus – das neue Mondobservatorium, die Hinweise auf Wasser. Die bloße Möglichkeit, daß es dort Leben geben könnte, scheint sie mehr zu faszinieren als uns die Tatsache. Und sie machen sich große Hoffnungen.«
Paolo lachte. »Das tun sie. Mein Erden-Ich scheint sich von der Diaspora zu erhoffen, daß sie eine fortgeschrittene Zivilisation findet, die alle Antworten auf die existentiellen Probleme der Koalition hat. Ich glaube nicht, daß er allzuviel kosmische Entwicklungshilfe von Seetang erwarten kann.«
»Weißt du, daß die Emigration aus C-Z nach dem Start erheblich angestiegen ist? Die Emigrations- und Suizidrate.« Hermann hatte aufgehört, sich zu winden und zu drehen. Er rührte sich kaum noch, ein Anzeichen seltener Ernsthaftigkeit. »Ich vermute, diese Tendenz war letztlich auch für die Verfolgung des Astronomieprogramms verantwortlich. Und es scheint den Strom zum Stocken gebracht zu haben, zumindest vorübergehend. C-Z Erde hat vor jedem anderen Klon der Diaspora Wasser entdeckt – und wenn man erfährt, daß wir Leben gefunden haben, wird man sich dort als Mitentdecker fühlen.«
Paolo hatte ein unbehagliches Gefühl. Emigration und Suizid? War das der Grund, warum Orlando so trübsinnig gewesen war? Wie hoch hatte man die Hoffnungen gesteckt – nach der Katastrophe mit dem Lift und dreihundert Jahren des Wartens?
Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Anwesenden, eine plötzliche Veränderung im Tonfall der Konversationen. Hermann flüsterte mit übertriebener Ehrfurcht: »Die erste Mikrosonde ist gelandet. Die Daten kommen jetzt herein.«
Das nicht-intelligente Herz war intelligent genug, um die Wünsche seiner Gäste zu erraten. Obwohl jeder für sich die Ergebnisse aus der Bibliothek abrufen konnte, stoppte die Musik, und ein riesiges öffentliches Bild mit der Zusammenfassung der Daten erschien hoch oben im Saal. Paolo mußte den Kopf recken, um es zu betrachten, eine völlig neuartige Erfahrung.
Die Mikrosonde hatte einen Teppich in hoher Auflösung vermessen. Das Bild zeigte das erwartete Rechteck, mehrere hundert Meter groß, doch die zwei oder drei Meter dicke Tafel der Neutrino-Tomographen offenbarte sich nun als feine, komplizierte Oberfläche – dünn wie eine einzige Hautschicht, die jedoch zu kunstvollen, raumfüllenden Windungen verschlungen war. Paolo konsultierte die Gesamtdaten: die Topologie war trotz des pathologischen Eindrucks völlig plan. Keine Löcher, keine Verbindungen – nur eine Oberfläche, die so stark in sich gewunden war, daß sie aus der Entfernung zehntausendmal dicker aussah, als sie es in Wirklichkeit war.
Ein kleineres Bild zeigte die Mikrostruktur, beginnend mit einem Punkt am Rand des Teppichs, der sich dann langsam in Richtung Zentrum bewegte. Paolo starrte mehrere Tau lang auf das fließende Molekulardiagramm, bis er begriff, was es bedeutete.
Der Teppich war keine Kolonie aus einzelligen Organismen. Und er war auch kein Vielzeller. Er bestand aus einem einzigen Molekül, einem zweidimensionalen Polymer mit einem Gewicht von fünfundzwanzigtausend Tonnen. Eine gigantische Fläche aus gefalteten Polysacchariden, ein komplexes Netz aus miteinander verknüpften Pentose- und Hexose-Zuckern, mit Nebenketten aus Alkylen und Amiden behangen. Ein
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