Dichterliebe: Roman (German Edition)
Träume der Nächte aufnehmen in die Wölbung des Himmels.
Volker Braun, Unsere Gedichte
Ich träumte, ich soll verreisen. Dämmerung, die Zeit ist knapp, ich habe noch nicht gepackt und klaube verstreut liegende Gegenstände vom Boden auf. Da ich keinen Koffer habe, stopfe ich alles in Dederonnetze und Plastetaschen, lauter Kleinkram, darunter ein zerbrochenes männliches Geschlechtsteil aus Gips, etwa doppelte Größe. In aller Eile merke ich immerhin, daß die Stücke vollständig sind und nicht Trümmer, sondern Bauteile mit glatten Schnittflächen, ein kompletter Satz, das stimmt mich optimistisch, während andere Gipsbrocken, obwohl ebenso akkurat und intakt, sinnlos wirken. Ich sammle hastig. Nicht nur, daß ich die Bedeutung der Gegenstände nicht kenne, ich weiß nicht mal, ob sie mir gehören, ich weiß nur, daß ich sie nicht zurücklassen darf. Dabei sind es viele und werden nicht weniger, immer achtloser werfe ich sie in meine Tüten, immer mehr Tüten brauche ich. Aufblickend sehe ich ein Pferd auf mich warten. Ein wunderschönes weißes Pferd mit dunklen Augen, das zu lächeln scheint, obwohl ich es noch nie gesehen habe, und es wartet unzweifelhaft auf mich. Es ist sehr, sehr groß, zweieinhalb oder drei Meter. Wie soll ich ohne Treppe auf seinen Rücken gelangen, wie es lenken mit beiden Händen voller Taschen und, selbst wenn ich eine Hand frei hätte, wohin? Zeit zum Überlegen bleibt nicht, ich sammle hektisch unter seinen aufmerksamen, aber zunehmend ungeduldigen Blicken. Um es zu beruhigen, rufe ich: » Gleich geht’s los!« » Gleich geht’s los!« wiederholt es begeistert.
Erwachen in tiefer Nacht. Neumond. Ich spüre den hundertfachen schwarzen Schlaf der Dohlen im reglosen Wipfel der Linde, ein gemeinsames magnetisches Schweigen, in dessen Sog ich nicht lange nach dem Sinn des Traums suchen muß: natürlich, der Tod, was sonst kann der Aufbruch bedeuten, denn wohin sollte ich aufbrechen, ich? Indessen: Bedeuten nicht Schönheit und Farbe des Pferdes, daß das Ende nicht zu fürchten sei? Verscheuche nicht den Schimmer der Freude … Es gibt tausend Gründe zu trauern und keinen zur Zuversicht, außer dem einen – der Pracht des Lebens, hat vor dreißig Jahren mein Mentor Frank Zisler gesagt. Wie ich ihn dafür verachtet habe! Ich dachte: ein exquisiter, unbeirrbarer Dichter, in so vielen Kämpfen gestählt, und endet wie? Sentimental und banal. Jetzt bin ich selbst soweit. Mein Herz klopft – Hufschlag, nein, meine Reise hat noch nicht begonnen, das ist nicht das Tänzeln des Fabeltiers, sondern das Stolpern eines verirrten Esels. Rumpelnd verliere ich mich im nächsten Traum.
An den erinnere ich mich am Morgen nicht, doch so viel weiß ich: Es ist keiner von den wüsten, wirren Träumen, die meine Nächte fleddern, und im Auftauchen halte ich zwei narbige gelbliche Flügel in den Händen.
*
Pegasus? Hatte das Pferd Flügel? Oder ein Horn, Einhorn? Nein, es war einfach ein Schimmel – Schimmel der Zuversicht … Sidonie. Ich werde ihr sagen, daß ich bereit bin, den Porsche zu verkaufen. Das ist bloß ein Angeberwagen, Relikt einer Phase der Verzweiflung. Der Verkauf wäre ein Zeichen, daß die überwunden ist.
Ist sie’s? Ich höre meine Erfahrung sagen: Nein! und lache ihr ins Gesicht. Unerklärlich froh – mal sehen, wie lang sich das halten läßt. Porsche verkaufen – bißchen Geld – Startkapital (wofür?) – zeigen (wem?), daß ich mich nicht aufgegeben habe. Gleich geht’s los! Den ganzen Tag freue ich mich. Die Arbeit geht mir leicht von der Hand, ich übertrage die Kapitel IV bis VI direkt in die Maschine, drucke aus, lese, habe sofort einleuchtende Korrekturen, es wird Abend, vom Kirchturm das 18-Uhr-Dröhnen, willkommen diesmal selbst in seiner Länge, denn es macht mich stolz, ich habe erst eine halbe Flasche Wein getrunken. Ich arbeite weiter. Ein paarmal stehe ich auf und gehe zur Tür, um nachzusehen, ob schon jemand vor meinem Haus sitzt. Nein. Schreiben die alle? Ich öffne. Es ist warm, aber bewölkt. Hoffentlich wird es nicht regnen.
Ich rufe Sidonie an und erkläre ihr das mit dem Porsche. Sie sagt: » Gut.«
Ich hatte mehr Freude über meine Einsicht erwartet. Aber Sidonie wirkt abgelenkt. » Du hilfst mir doch?« frage ich alarmiert.
» Ja, nur nicht heute.«
» Also morgen?«
» Morgen.«
» Wie wirst du das denn machen?« frage ich, damit das Gespräch weitergeht.
» Ich schaue in der Ostfriesenzeitung nach Annoncen.«
» Und wenn da keine
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