Dichterliebe: Roman (German Edition)
wurde von Panik gepackt und floh zum Heim zurück. Das sonst so stille Ufer war erfüllt von Rufen und Stöhnen, vom hysterischen Gelächter gestürzter Lektoren, die über die Kälte des Lehms an ihren Hosen erschraken, und vom Jammern ertrinkender Schriftsteller, die auf dem See um Hilfe riefen, nachdem sie, im Dunkeln zu einer Ruderfahrt aufgebrochen, bemerkt hatten, daß ihr Boot leck war.
*
Als ich aus dem Haus trete, sehe ich Sidonie über mein taufeuchtes Manuskript gebeugt. Ich hatte, weil ich nicht einschlafen konnte, meine Karatschinzew-Nachdichtung ausgedruckt und draußen in der Morgendämmerung korrigiert, bis mir kalt wurde. Ich ging hinein und kochte Kaffee, aß ein Marmeladenbrot, wollte schon weiterarbeiten, als ich ins Bad mußte – Gottseidank, das brachte mich zu mir. Ich sah mich im Spiegel, eine Schreckenserscheinung: Mund rot verschmiert, wäßrige Augen, Schlafsand an den Lidern, die Tränensäcke, Bartstoppeln, das zerwühlte graue Haar. Wo ist das frohe Pferd geblieben, mein Traum? So trägt es mich nicht mal in den Tod. Ich brause rasiere kämme mich, ziehe eine saubere Hose an, ein neues Hemd, trete wieder hinaus in den sonnigen Morgen. Und stehe hinter Sidonie. Sehe die Härchen in ihrem Nacken, die zarte Haut.
» Du hast aber eine schöne Handschrift!« sagt sie bewundernd.
» Inwiefern?«
» So akkurat! Ästhetisch.«
» Danke.« Fassung bewahren.
» Entschuldige, daß ich einfach so lese. Aber ist wohl nur dein russischer Klassiker, da dachte ich …«
» Wieso nur?«
Sie schluckt. » Und der Titel ist Schöpferisches Haus?«
» Nein, das ist die Interlinearübersetzung. Der Titel wird sein: Künstlerhaus.«
» Warum hast du’s noch nicht hingeschrieben?«
» Weil es sich von selbst versteht.«
Sie wirkt beeindruckt. » Also, ich wollte dich was fragen …«, hebt sie wieder an.
» Bitte.«
» Der Satz Wir sind Reaktorasche, Sternenstaub – also von Roberts Gedichtband der Titel, der nicht genommen werden durfte …«
» Das wäre der Titel gewesen?« frage ich vielleicht etwas heftig.
» Na, es war eine Verszeile, die außerdem zum Titel …«
» Das ist kein Vers. Das ist eine naturwissenschaftliche These.«
» Kann es nicht beides …«
(schroff) » Was ist damit?«
» Entschuldige bitte, du bist …«
» Ich höre.«
» Also – wie wichtig ist der Titel …«
Sie verstummt, eingeschüchtert. Gut so. Ach Sidonie, warum können wir nicht den ganzen Tag über Poesie reden?
» Der Titel ist Teil des Gedichts. Manchmal der entscheidende. Kennst du das Gedicht … nein, den Titel sage ich nicht. Es ist von Conrad Ferdinand Meyer:
Denkst, Freund , des wilden Knabenspiels du noch,
das wir getrieben einst am Bergesjoch?
» Nee«, sagt sie beschämt. Wahrlich, eine so ungebildete Autorin ist mir selten begegnet.
Ich sage das Gedicht auf und beobachte das Aufgehen der Bilder in Sidonies Gesicht: die beiden Knaben, die dem entschwindenden Sonnenlicht nachsteigen.
Wir sprangen jubelnd über Stock und Stein
bergan und wieder in das Licht hinein,
und noch einmal und noch einmal,
bis uns entschlüpft’ der letzte Sonnenstrahl.
Kontrollblick: Sidonie gebannt. Ich zitiere die dritte und vierte Strophe, die die Kindererfahrung aufs erwachsene Leben überträgt. Auch im Leben verblaßt das süße Licht, und ins Alter steigen wir ihm wie damals nach:
Wir springen rüstig über Stock und Stein
und mitten wieder in den Tag hinein,
und noch einmal und noch einmal,
bis uns entschlüpft der letzte Lebensstrahl.
» Poetisch …«, sagt Sidonie andächtig.
Hier muß ich ein bißchen leiden, denn Poesie poetisch finden bezeugt eine ähnliche Kompetenz wie Wein süffig nennen – was sonst will Wein als gesoffen sein? Ich vermerke aber positiv, daß gängige Westadverbien fehlen: Sie hätte ja auch echt poetisch sagen können, oder total spannend.
» Es geht um die vergehende Zeit, das kurze Leben«, bemerke ich nach einer Weile.
Sie nickt.
» Unter welchem Aspekt?« frage ich.
Sie denkt nach, ohne Hochmut – nett.
» Ist das Gedicht komplett?« frage ich. » Wodurch könnte der Dichter es vertiefen? Ihm eine zusätzliche Bedeutung geben, einen besonderen Akzent?«
Die grauen Augen auf mich gerichtet, aufnahmebereit, gläubig –
» Titel?« souffliere ich.
» Keine Ahnung!«
» Spiel.«
» Oh.« Sie hat ein ausdrucksvolles Gesicht.
» Und was hältst du von folgendem Vierzeiler«, fahre ich fort. » Etwas moderner, von Inge Müller, unserer DDR
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