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Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Titel: Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Moehrs
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gab es in Atlantis wirklich. Es waren kleine Lokale, geführt von Ornischen Dünenunken, in denen man Gerüchte zu sich nehmen konnte. »Gekocht« wurden die Gerüchte an großen runden Holztischen, an denen die Unken saßen, eifrig Zigaretten rauchten und vor sich hin munkelten. So entstand nach und nach aus Gemunkel, kleinen Verleumdungen und unüberprüfbaren Behauptungen ein interessantes Gerücht, das man aufschnappen, mit nach Hause tragen und weiterverbreiten konnte, zum Beispiel, daß der Bürgermeister von Atlantis nachts heimlich aus Mülltonnen ißt.
    Pelzohtereien waren Ideine düstere, meist im Souterrain geführte Läden, in denen yhöllisische Derwische mit schweren Eisenklatschen auf Naturfelle eindroschen und dabei schwermütige Gesänge auf Yhöllisisch zum Besten gaben. Was es damit auf sich hatte, wußten nur diejenigen, die ihre Felle in diese Läden trugen und durchdreschen ließen (aber sie schwiegen darüber beharrlich).
    Das war vermutlich das ganze Geheimnis der atlantischen Gesellschaft: Kaum jemand scherte sich darum, was der andere trieb, solange man selbst in Ruhe gelassen wurde.
    Politik gab es in Atlantis seit den Zamonischen Erbfolgerempeleien eigentlich gar nicht mehr. In sehr frühen Tagen hatten tatsächlich noch Könige die einzelnen Stadtteile regiert, dann hatten durch eine Kette von diplomatischen Kniffen die Nattifftoffen das Ruder übernommen, während die Könige nur noch die Frühstücksregenten abgaben: Sie beschränkten sich darauf zu repräsentieren. Sie erschienen zur Eröffnung von neuen Einkaufsmärkten oder liefen bei Marathons für wohltätige Zwecke mit, hielten bei Beerdigungen von prominenten Bürgern Trauerreden oder wohnten großen sportlichen Ereignissen bei, mehr taten sie kaum. (Außer dem König Snalitat XXIII. von Tatilans, der irgendwann in den Zamonischen Erbfolgerempeleien den Verstand verloren hatte und jetzt gelegentlich nackt durch die Stadt lief und schwer zu entschlüsselnde Regierungserklärungen von sich gab. Zuletzt hatte er gefordert, daß alle Nattifftoffen über dreizehn Jahre gelb angestrichen und in einer Reihe aufgestellt werden müßten, damit man ihnen die Füße bürsten kann.)
    Das Volk von Atlantis regierte sich eigentlich selbst, und das funktionierte mal gut, mal weniger gut und manchmal überhaupt nicht. Ungefähr einmal im Monat brach das absolute Chaos aus, irgendeine Zwergensorte verstopfte die Kanalisation mit Klopapier, um auf eine Benachteiligung hinzuweisen, oder die Rikschadämonen gingen zusammen mit den Venedigermännlein in Solidaritätsstreik, wodurch das gesamte Verkehrssystem und der Brennstoffnachschub zusammenbrachen. Da absolutes Chaos auf so engem Raum aber für jeden nur sehr kurz zu ertragen ist, beruhigte sich alles nach längstens zwei Tagen, bevor vernünftige Forderungen überhaupt gestellt, geschweige denn erfüllt werden konnten, und alles ging wieder seinen gewohnten Gang. Eigentlich funktionierte Atlantis so ähnlich wie ein Ameisenhaufen, oberflächlich betrachtet vollkommen chaotisch und ohne jedes erkennbare System, aber dennoch hielt alles zusammen und diente einem einzigen gemeinsamen Zweck, dem Bestehen und Funktionieren einer gigantischen, beängstigenden, wunderschönen und unbegreiflichen Stadt.
    Auf jemanden, der sich in seinen bisherigen Leben vorwiegend auf See, in der Wüste, auf kleinen Inseln oder in geschlossenen Labyrinthen aufgehalten hatte, wirkte so eine massive Ballung von Daseinsvielfalt und Kultur wie ein Schlag mit einer unsichtbaren Keule. Zumindest muß ich ausgesehen haben wie jemand, der gerade einen Hieb über den Schädel verpaßt bekommen hat, als ich mit heruntergeklappter Kinnlade durch die Straßen von Atlantis wankte und mich dabei immer wieder staunend um die eigene Achse drehte. Erst nach mehreren Stunden blieb ich an einer Straßenkreuzung stehen, die an jeder Ecke von einem mindestens hundert Meter hohen schwarzen Marmorlöwen bewacht wurde.
    Es war jetzt später Nachmittag. Um mich herum flanierten, drängelten und schubsten die Einwohner von Atlantis, meine Füße fingen an zu schmerzen, ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo genau ich war, wohin ich wollte und was es zum Abendessen gab.
    Ich war es bisher gewohnt, mein Essen entweder geschenkt zu bekommen oder in der Natur vorzufinden. Mir war aus Nachtigallers Unterricht bekannt, daß in großen Städten andere Gesetze herrschten, was unter anderem bedeutete, daß man fürs Essen bezahlte, und zwar mit Geld.

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