Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
auf einmal reif, überreif wie Fallobst. Oder besser: wie ein Mastferkel, das zur Schlachtbank geführt wird.
Und dann fing die Insel unter mir an zu beben. Ich versuchte aufzustehen, aber kaum stand ich, da wurde mir schon schwindelig, und ich fiel wieder hin. Ich hatte tatsächlich das Stehen verlernt.
Die Palmen um mich herum schienen in Sekundenschnelle zu verwelken, sie schrumpelten zusammen, bis sie nur noch kleine, häßliche, verdorrte Pflanzen waren, die wie schwarze dürre Hände aussahen. Auch all die anderen Pflanzen verwelkten, und das fette Raukengras verwandelte sich in einen schwarzen Teppich, wie ein abgebranntes Stoppelfeld. Überall darin klafften häßliche kleine Löcher, die sich öffneten und schlössen wie Fischmäuler. Ich glaubte sogar, Zähne darin zu erkennen. Mein Paradies verwandelte sich in eine Hölle.
Die Vögel und Schmetterlinge fielen wie vom Schlag getroffen zu Boden, zerkrümelten zu Staub und versickerten in der heftig bebenden Erde. Über allem dröhnte ein lautes gräßliches Geräusch, ein Schmatzen und Rülpsen wie von hundert wütenden Wildschweinen. Ich versuchte noch einmal, mich zu erheben und davonzuwanken, aber ich kam keinen Schritt weit. Eine der verdorrten Pflanzen, die einmal eine singende Blume gewesen war, griff nach meinem Fuß und krallte sich fest. Dann fing sie an zu wachsen, und zwar sehr, sehr schnell.
Ich wurde von ihr in die Luft gerissen und kopfüber nach oben getragen, zwanzig, dreißig Meter hoch. Voller Entsetzen sah ich nach unten und konnte beobachten, wie ein gewaltiger Riß mitten durch die jetzt völlig vegetationsfreie Insel ging. Sie klappte auseinander wie der Rachen eines Haifischs. Ich blickte in ein riesiges stinkendes Maul, in dem Tausende von fauligen Zähnen saßen.
Aus dem
»Lexikon der erklärungsbedürftigen Wunder,
Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und
Umgebung«
von Prof. Dr. Abdul Nachtigaller
Gourmetica Insularis, die: Die Gourmetica Insularis ist eine Wasserpflanze aus der Familie der sehr seltenen heterotrophen Verschlingpflanzen, also Pflanzen, die sich nicht, wie allgemein in der Flora üblich, von anorganischen, sondern von organischen Stoffen ernähren. Die Gourmetica zählt zu den zamonischen Daseinsformen mit unsportlichem Lockverhalten, entfernt verwandt ebenfalls mit der wesentlich kleineren Venusfliegenfalle und der sehr raren -> Waldspinnenhexe. Die Gourmetica ist in der Lage, sich in eine Art schwimmendes Paradies zu verwandeln, um ihre Opfer auf raffinierte Art und Weise anzulocken und zu mästen. Eine ausgewachsene Gourmetica kann einen Umfang von einigen Kilometern erreichen, benötigt aber nur zirka einen Frischkörper von etwa drei Zentnern Lebendgewicht, um sich ein Jahr zu ernähren, wobei es sich nicht um Kiemenatmer oder Vögel, sondern ausschließlich um höherentwickelte Säugetiere handeln darf. Die Gourmetica ist fest mit dem Meeresboden verwurzelt, was sich als eine Gnade der Natur erweist, wenn man bedenkt, was eine Verschlingpflanze, die in der Lage wäre, sich frei zu bewegen, etwa in einer belebten Hafenstadt anrichten könnte.
Da hing ich also hoch oben in der Luft, die schwarze Klaue hielt mich über dem Riesenrachen in der Schwebe, so wie ich ein paar Minuten vorher noch selber eine Traube über meinem eigenen Mund gehalten hatte.
Unter mir klaffte der gewaltige Pflanzenschlund, ich konnte sehen, wie Sturzbäche von Speichel darin zusammenliefen. Aus der Tiefe des Mauls wuchs eine grüne Zunge, einer Riesenschlange gleich, in meine Richtung. Eine Atemwolke schoß hoch, deren Gestank mir fast die Besinnung raubte. Dann lockerte sich der Griff um meinen Fuß, ließ schließ- lich ganz los, und ich stürzte kopfüber in die Kehle der heimtückischen Wasserpflanze.
Man sagt, daß das ganze Leben noch einmal wie ein Film vor einem abläuft, bevor man stirbt. In meinem Fall war das ein sehr kurzer Film: die Zwergpiraten, die Klabautergeister, die Tratschwellen, die Feinschmeckerinsel - das sollte es jetzt gewesen sein? Offensichtlich, denn ich stürzte im freien Fall in den Schlund einer erbarmungslosen Riesenpflanze, die nicht die geringsten Anstalten machte, es sich noch einmal anders zu überlegen.
Es ist erstaunlich, wie genau man die Dinge in einer solchen Situation wahrnimmt. Ich stellte zum Beispiel fest, daß die Zähne der Gourmetica in erschütternd ungepflegtem Zustand waren, teilweise von Algen und Muschelkolonien überwachsen, teilweise eiternd und mit einer dicken,
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