Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 02 - Der goldene Narr
er die Schriftrollen hier liegen gelassen hatte. Er wollte mich wissen lassen, dass er immer wieder versucht hatte, seinen Leib zu reparieren, und dass er gescheitert war, seit die Gabenschriften in seinen Besitz gelangt waren. Er hatte erst Erfolg gehabt, seit er Zeuge meiner Heilung gewesen war, und dabei hatte er auch herausgefunden, dass er Dicks Talent anzapfen konnte, damit seine eigenen Bemühungen endlich Früchte trugen.
Ich las das Tagebuch seiner Enttäuschungen, und ich erkannte die Furcht, die damit einhergegangen war. Ich hatte miterlebt, wie Nachtauge langsam immer schwächer geworden war – und das hatte mir einen guten Eindruck davon verschafft, wie es sein musste, alt zu werden. Chade hatte erst in den letzten zehn Jahren ein normales Leben aufgenommen. Seine Blütezeit hatte er hier in diesem Raum verbracht und im Schatten und in Verkleidung gearbeitet. Wie bitter musste es sein, endlich in eine Welt voller Tanz und Vergnügen, Macht und Reichtum zu treten, nur um dann zu fürchten, dass der eigene alternde Leib einem das alles schon bald wieder wegnehmen konnte? Trotz der Risiken, die er eingegangen war, konnte ich ihm nicht verübeln, was er getan hatte. Ich verstand ihn nur allzu gut. Ich fürchtete mich vor dem Tag, da ich vor solch einer Entscheidung stehen würde, denn ich fürchtete, dass meine Entscheidung die Gleiche sein würde.
Sorgfältig las ich mehrmals die Schriftrolle, die sich mit dem Heilen des Leibes mittels der Gabe beschäftigte. Ich fand dort vieles Nützliche, doch nicht alles, was ich wissen musste. Mit trauriger Gewissheit erkannte ich, warum Chade diese Schriftrollen bis jetzt vor mir verborgen hatte. Hätte ich sie gesehen, ich hätte sofort gewusst, dass er alleine versuchte, die Gabe zu meistern, und offensichtlich hatte er damit schon vor etlichen Jahren begonnen.
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und versuchte, mich in die Lage des alten Mannes zu versetzen. Was stellte er sich vor, wovon träumte er? Ich ging Jahre zurück. Der Krieg der Roten Schiffe war endlich vorbei. Die Korsaren waren von den Drachen der Sechs Provinzen vertrieben worden. Der Frieden war ins Land zurückgekehrt, die Königin trug den Weitsehererben unter dem Herzen, und Edel hatte nicht nur die Bibliothek mit den Gabenschriften zurückgegeben, er war angenehmerweise auch gestorben, kurz nachdem er der Krone Treue geschworen hatte. Chade, der so viele Jahre in den Schatten verbracht hatte, konnte endlich als Ratgeber der Königin ans Licht treten. Er konnte sich frei in Bocksburg bewegen und die Gesellschaft des Adels genießen. Was hätte er sich noch wünschen können? Nur das, was man ihm vor so vielen Jahren verweigert hatte.
Königliche Bastarde wurden nicht in der Gabe unterrichtet, selbst dann nicht, wenn sie eine Neigung dazu entwickelten. Einige Könige hatten ohne Skrupel Elfenrinde gegen solche Bastarde eingesetzt, um die Gabe in ihnen abzutöten. Ich zweifelte nicht daran, dass einige Weitseherherrscher sich selbst diese Mühe erspart und die illegitimen Kinder schlicht erschlagen hatten. Mich hatte man nur in der Gabe ausgebildet, weil sowohl Prinzessin Philia als auch Chade sich für mich eingesetzt hatten. Ich bin jedoch sicher, dass König Listenreich es selbst abgelehnt hätte, wäre er nicht so verzweifelt auf der Suche nach einer Kordiale gewesen.
Chade hatte man nie unterrichtet, und wie es Kinder nun einmal tun, hatte ich dieses Wissen über meinen Meister schlicht als selbstverständlich akzeptiert. Ich hatte ihn nie gefragt: »Bist du je auf die Gabe geprüft worden? Hast du darum gebeten, unterrichtet zu werden und bist du abgelehnt worden, oder hast du einfach nie gefragt?« Ich hatte ihn nie nach den Einzelheiten gefragt, doch ich hatte gewusst, dass er sich nach diesem verbotenen Wissen gesehnt hatte. Ich hatte das gewusst, weil er sich so eifrig für mich eingesetzt hatte, und weil er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als mich erfolgreich zu sehen. Mein Versagen, diese Magie zu meistern, hatte ihn ebenso geschmerzt wie mich.
Bisher hatte ich nie darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn ihm Schriftrollen wie diese hier in die Hände fielen. Seit er in meine Hütte gekommen war, hatte ich gewusst, dass er diese Texte gelesen hatte. Ich kannte Chade gut genug. Mir hätte klar sein müssen, dass er auch ohne Lehrmeister versuchen würde das zu meistern, wovon die Schriften erzählten. Jedes Mal wenn er das Thema der Kandidaten für den
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