Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 03 - Der weisse Prophet
seinen Drachen übergegangen war. Es hatte all seine Erinnerungen verlangt und auch seine Lebenskraft ebenso wie die Krähes, den Stein so weit zu sättigen, dass er zum Leben erwachte. Die alte Frau hatte sich genauso bereitwillig geopfert wie Veritas. Sie war die letzte ihrer Gabenkordiale gewesen, eine einsame Frau, die ihre Zeit und ihren Herrscher überlebt hatte; doch nichtsdestotrotz war sie zurückgekehrt, um den Weitsehern zu dienen. Krähes Jahre und Veritas Leidenschaft hatten kaum ausgereicht, den Drachen zu wecken. Das wusste ich nur allzu gut. Veritas hatte auch ein Stück von mir für seinen Drachen genommen, und später hatte ich unüberlegterweise weitere Erinnerungen in die Skulptur vom Mädchen auf einem Drachen gespeist. In jenem Augenblick hatte ich dann auch die Gefräßigkeit eines Steindrachens zu spüren bekommen. Es wäre mir ein Leichtes gewesen zuzulassen, dass das Mädchen auf einem Drachen mich ganz verschlang; in gewisser Hinsicht wäre es sogar eine Erleichterung gewesen.
Oder vielleicht eine Gefangenschaft. Was geschah mit einem Steindrachen, der nicht genug Erinnerungen hatte, um zum Leben zu erwachen und sich in die Luft zu erheben? Ich hatte gesehen, was mit dem Mädchen auf einem Drachen geschehen war. Sie war dort im Steinbruch geblieben, in unbearbeitetem Stein versunken. In ihren! Fall glaubte ich allerdings nicht, dass ein Mangel an Erinnerungen der Grund dafür war, sondern der mangelnde Wille ihres Schöpfers, seine Einzigartigkeit dem Ganzen zu opfern. Die Anführerin der Kordiale, die sie geschaffen hatte, hatte versucht, sich zurückzuhalten und ihre Erinnerungen nur in das Mädchen zu übertragen, anstatt sie in die Skulptur als Ganzes einfließen zu lassen - oder zumindest hatte Krähe mir das gesagt, als ich sie gefragt hatte, warum die Statue nicht zum Leben erwacht sei. Ich glaube, sie hat mir die Geschichte erzählt, um mich vor Veritas' Drachen zu warnen; sie hat mir helfen wollen zu verstehen, dass der Drache sich mit nicht weniger als mir zufrieden geben würde.
Ich wünschte, Krähe wäre jetzt bei mir gewesen, um mir die Geschichte dieses Drachen zu erzählen; aber ich vermutete, dass ich sie bereits kannte. Der Stein war nicht als Ganzes bearbeitet worden, sondern in Teilen. Auch hatten die Bildhauer ihre eigenen Erinnerungen nicht in ihn übertragen. Ich stand, so spekulierte ich, vor einem Denkmal des Kriegs der Roten Schiffe. Was war aus den Erinnerungen und Gefühlen der Verwandelten geworden? Die auf den ersten Blick unzusammenhängenden Hinweise darauf fügten sich in dieser zerteilten Kreatur zusammen. Erinnerungsstein hatte als Ballast auf den Weißen Schiffen gedient. Hatten die Bleiche Frau und Kebal Raubart aus einer gestohlenen oder gekauften Gabenschrift gelernt, wie man Drachen zum Leben erwecken konnte? Aber was hatte sie dann davon abgehalten, einen eigenen Drachen zu erschaffen, der die Rüste der Sechs Provinzen hätte verwüsten können? Hatte es ihnen an Willen gemangelt, ihr eigenes Leben zu geben und ihrer Schöpfung einzuhauchen? Hatten sie geglaubt, den Drachen mit den Erinnerungen zum Leben erwecken zu können, die sie den Menschen der Sechs Provinzen geraubt hatten?
Vor mir lag der Beweis für ihr Unvermögen, den wahren Grund dafür zu verstehen, warum eine Kordiale nach Jhaampe und jenseits davon reiste, um einen Steindrachen zu erschaffen. Sie hatten den Menschen der Sechs Provinzen ihre Erinnerungen stehlen, sie jedoch nicht zu einem Ganzen schmieden können, wie es nötig gewesen wäre, um einem Drachen Leben einzuhauchen. Noch nicht einmal den vielen Kordialen war das gelungen, die zu diesem Zweck in die Berge gegangen waren. Einige von ihnen hatten sich Frauen des Bergvolks genommen und den Rest ihres Lebens in Liebe verbracht. Andere hatten tatsächlich begonnen, Drachen zu formen, waren aber gescheitert, denn das ist keine leichte Aufgabe, noch nicht einmal für eine entschlossene Gabenkordiale. Ein Drache, der von den Erinnerungen unterschiedlicher Menschen erfüllt ist, die man in einen einzigen Stein gezwungen hat, ein Drache geboren aus Angst, Schrecken, Wut und Hoffnungslosigkeit ist eine wahnsinnige Kreatur.
War es das, was Kebal Raubart und die Bleiche Frau beabsichtigt hatten?
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich mich geradezu danach gesehnt, mich in einen Steindrachen zu stürzen. Noch immer erinnerte ich mich daran, wie schmerzhaft es für mich gewesen war, als Veritas mich von der Erschaffung seines
Weitere Kostenlose Bücher