Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 03 - Der weisse Prophet
»Was willst du?«, knurrte er. Ihre dunklen Augen waren schwarz wie Feuerstein. »Du weißt es«, erwiderte Tintaglia und schüttelte mich noch ein wenig, sodass ich jeden einzelnen Knochen in meinem Rücken spürte. »Ich will alles wissen, was du über den schwarzen Drachen im Eis weißt. Ich will alles wissen, was du über eine Insel weißt, welche die Menschen Aslevjal nennen.«
»Ich weiß nichts von solchen Dingen!«, erwiderte Nessel wütend. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Lass ihn los.«
»Wie du willst.« Der Drache ließ mich los, und einen furchtbaren Augenblick lang stürzte ich hinab. Dann schoss der Kopf an dem schlangenartigen Hals vor und packte mich erneut. Diesmal schloss sich sein Kiefer um meine Rippen. Er drückte mich und demonstrierte so, wie leicht sie mich zerquetschen konnte. Dann milderte sie den Druck und fragte mich: »Und was weißt du, kleines Wolfding?«
»Nichts!«, keuchte ich und blies dann alle Luft aus meiner Lunge, als sie wieder zudrückte. Es würde schnell gehen, sagte ich mir selbst. Ich würde meine Lüge nicht lange aufrechterhalten müssen. Tintaglia war keine geduldige Kreatur; sie würde mich schnell töten. Ich drehte den Kopf, um einen letzten Blick auf meine Tochter zu werfen.
Nessel stand da und wirkte plötzlich größer als zuvor. Dann breitete sie die Arme aus. Ihr Haar flatterte in einem Wind, den nur sie spürte, und umrahmte ihr Gesicht wie ein Heiligenschein. Sie warf den Kopf zurück. »Das ist ein TRAUM!«, rief sie. »Und es ist
mein
Traum! Ich werfe dich aus ihm hinaus!« Letzteres sprach sie wie ein einziges Wort und im befehlenden Tonfall einer Königin. Zum ersten Mal erkannte ich die Kraft der Gabe meiner Tochter. Ihre Fähigkeit, Träume zu formen und alles zu beherrschen, was in ihnen geschah, war eine Manifestation ihres Talents.
Tintaglia schleuderte mich über eine endlose Leere hinaus. Unter mir sah ich nicht den felsigen Abgrund meines Traums, sondern ein farbloses Nichts. Kurz erhaschte ich einen Blick auf den Drachen, den Nessel wieder auf die Größe einer Biene schrumpfen ließ. Dann kniff ich die Augen zusammen zum Schutz vor dem schwindelerregenden Fall. Doch noch während ich Luft holte, um entsetzt zu schreien, sagte Nessel mir leise ins Ohr: »Es ist nur ein Traum, Traumwolf, und er gehört mir. In meinen Träumen wird dir nie ein Leid geschehen. Öffne jetzt deine Augen, und erwache in deiner eigenen Welt.«
Einen Augenblick, bevor ich aufwachte, spürte ich den beruhigenden Druck der Matratze unter mir, und als ich in der Dunkelheit meines Arbeitszimmers die Augen öffnete, war ich nicht in Panik. Nessel hatte dem Albtraum seinen Schrecken genommen. Kurz fühlte ich mich erleichtert. Ich atmete tief durch, und als ich mich wieder dem Schlaf ergab, staunte ich über die seltsame Gabenstärke meiner Töchter. Doch als ich mir die Decke wieder über die Schulter zog und mir meine Hälfte des Kissens von dem Frettchen erkämpfte, ließ mich der frühere Teil meines Traums wieder aufwachen. Flink hatte gelogen. Burrich hatte ihn nicht verstoßen. Schlimmer noch, sein Weggehen hatte seine Familie vollkommen durcheinander gebracht.
Ich lag still mit geschlossenen Augen im Bett und wünschte mir erfolglos, endlich wieder einzuschlafen. Stattdessen plante ich, was ich tun musste. Der Junge musste nach Hause geschickt werden, doch ich wollte nicht derjenige sein, der das tat. Er würde zu wissen verlangen, woher ich wusste, dass er gelogen hatte. Nun denn. Ich würde Chade erzählen, dass Burrich Flink nicht freigegeben hatte. Damit würde ich Chade gegenüber jedoch auch eingestehen, dass ich noch immer Gabenkontakt mit Nessel hatte. Nun, das war nicht zu ändern, sagte ich mir mürrisch. All meine Geheimnisse schienen dazu zu neigen, durchzusickern und allgemein bekannt zu werden.
Bei Sonnenaufgang war ich auf den Beinen. Ich holte mir Brot, Milch und Schinken im Wachraum und trug sie zum Essen in die Frauengärten hinaus. Dort saß ich dann, lauschte dem Vogelgesang und roch die von der Morgenluft erwärmte Erde. Solche Dinge haben mir stets viel Trost gespendet, und an diesem Morgen bestätigten sie mir, dass die Güte der Erde kein Ende kennt, und ließ mich wünschen, ich könnte bleiben, um den Sommer zu sehen, wenn die Früchte an den Bäumen reiften.
Ich fühlte sie, bevor ich sie sah. Merle trug ein blassblaues Morgengewand. Ihr Haar fiel offen über die Schultern, und ihre schlanken Füße steckten in
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