Die 2ten Chroniken von Fitz dem Weitseher 04 - Der wahre Drache
gleichermaßen von der Druckwelle erfasst. Ich selbst wurde quer durch die Grube geworfen. In der Folge dieser Explosion regneten rasiermesserscharfe Eissplitter auf uns herab und durchbohrten einige von uns. Ich spürte die Splitter, doch vor mir war alles weiß. Ich glaubte, ich sei sowohl blind als auch taub geworden. Dann senkte sich der feine Eisnebel und enthüllte ein geräuschloses Chaos. Ich sah Web an mir vorüberstolpern, die Hände auf die Ohren gepresst. Ich sah Männer schreien, hörte sie jedoch nicht. Und ich fragte mich, ob ich je wieder etwas würde hören können.
Ich hob den Blick und sah Pflichtgetreu und Chade, die voller Entsetzen in die Ausgrabung hinunterblickten. Sie waren nicht in der Grube gewesen, und einen Augenblick später wurde mir klar, dass auch die Männer mit dem Schlitten den schlimmsten Auswirkungen der Explosion entgangen waren. Doch kaum hatte ich mich wieder aufgerappelt und war zu dem Schluss gekommen, dass meine Knochen nicht gebrochen waren, da wurde ich erneut durchgeschüttelt. Der Boden unter meinen Füßen bewegte sich. Neue Risse brachen auf, und plötzlich gab das Eis nach. Schwarzes Fleisch drückte sich durch das berstende Eis.
Frei!
Das war der verständlichste Gedanke, den ich bisher von Eisfeuer empfangen hatte, und es war mehr ein Gefühl des Triumphs denn ein Wort.
Sein gewaltiger schwarzer Kopf hob sich auf einem schlangenartigen Hals. Seine halb entfalteten Flügel dienten ihm als zusätzliche Gliedmaßen, als er sich aus dem ihn umgebenden Eis befreite. Der Anblick seines so lange gefangenen Körpers weckte Mitleid in mir, selbst inmitten der Schrecken, die meine Kameraden befallen hatten. Sein Fleisch bedeckte kaum seine Knochen, und seine schuppige Haut hing an ihm herunter wie schlecht genähte Kleider. Als er die Flügel entfaltete, waren Risse und Löcher in ihnen zu erkennen, ein edler, von Dornen zerfetzter Mantel.
Eisfeuer wand sich aus dem Eis und hielt mehrmals kurz inne, um ein lautes, triumphierendes Gebrüll auszustoßen -jedenfalls sah es so aus, hören konnte ich ihn ja nicht. Die benommen um ihn herum liegenden Menschen kümmerten ihn nicht. Doch das beruhigte mich keineswegs, denn großer Hunger strahlte wie Hitze von ihm aus. Da wusste ich instinktiv, dass ich die Beute für dieses weit größere Raubtier war. Meine Worte an ihn hätten ebenso wenig Einfluss auf seine Gedanken wie das wilde Schreien eines Hasen auf den Geist eines Wolfes. Nachtauge und ich hatten nie versucht, mit unserer Beute zu sprechen, solange sie noch am Leben war, und das würde auch diese Kreatur nicht tun. »Narr, was hast du da auf die Welt losgelassen?«, stöhnte ich.
Der Drache gab sich einen weiteren Ruck und kam wieder ein Stück aus dem Eis heraus. Seine Größe wurde immer beeindruckender. Nachdem Eisfeuer Halt auf den sich bewegenden Trümmern seines Gefängnisses gefunden hatte, zog er den Schwanz aus dem Eis. Dieser schien nicht enden zu wollen, doch schließlich lag er auf dem Eis wie der Riemen einer gigantischen Peitsche. Plötzlich warf Eisfeuer den Kopf zurück und stieß einen wilden Schrei aus, der höher und höher stieg, bis er schließlich außerhalb des Hörbereichs lag. Das war das erste Geräusch, das ich nach der Explosion wahrnahm, und es war wie ein vollkommen neues Gefühl für mich, als das Gebrüll meine Lungen beben ließ.
Dann sah ich, wie sich die Nüstern blähten und sich der spitze Kopf des Drachen zum Adler hinuntersenkte. Obwohl der Mann tot war, drehte sich mir bei dem Gedanken der Magen um, was nun mit ihm geschehen würde. Eisfeuer schnüffelte an der Leiche und befreite sie von den Eisbrocken, unter denen sie begraben war. Vorsichtig berührte er sie mit den Lippen. Dann hob er den Adler hoch und schüttelte die letzten Eisreste ab wie Nachtauge das tote Laub von einem Fisch. Der Drache fraß wie eine Möwe. Er warf den Toten in die Luft und ließ ihn sich ins Maul fallen, sodass dieser schon halb verschwunden war, bevor er schluckte. Dann war der Adler nur noch ein Klumpen, der den langen Hals hinunterglitt.
Der Wolf in mir sah das vollkommen gelassen: Ein toter Mensch war genauso Fleisch wie alles andere auch, und der Drache hatte schlicht Aas gefressen. Ich selbst hatte mich aus Hunger auch schon an Aas bedient und war sogar froh gewesen, mich an den Beuteresten eines Bären gütlich zu tun, während der eigentliche Jäger gesättigt schlief. Doch der Adler war ein Mensch gewesen, ein Führer der Menschen,
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