Die 39 Zeichen 01 - Die Katakomben von Paris
schwarzen Wolken. Donner grollte in der Ferne, aber die Pariser schien das nicht weiter zu beunruhigen. Das Flussufer war voller Jogger und Skater. Und ein Aussichtsboot voller Touristen brummte die Seine entlang.
Amy versuchte vom Handy der Starlings aus Nellie anzurufen,
doch das Telefon war tot. Offensichtlich funktionierte es in Frankreich nicht.
Ihre Nerven lagen immer noch blank nach der Verfolgungsjagd durch das Hauptquartier der Lucians. Trotz all der Wachleute waren sie ziemlich einfach hinein- und wieder herausgekommen, und sie überlegte, warum das so war. Außerdem ärgerte es sie, dass Dan die Sachen von dort mitgenommen hatte - die Franklinbatterie und die seltsame Metallkugel. Doch sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm darüber zu diskutieren. Wenn er einmal etwas in den Fingern hatte, ließ er nicht mehr davon ab.
Sie fragte sich, wie Irina Spasky an das Buch von Onkel Alistair gelangt war und was sie auf der Île St-Louis suchte. Vielleicht war es eine Falle, doch es war Amys einzige Spur - oder zumindest die einzige Spur, über die sie gerade nachdenken wollte. Die Notiz ihrer Mutter in Poor Richard’s Almanack - das Knochenlabyrinth - jagte ihr immer noch kalte Schauer über den Rücken.
Sie versuchte sich vorzustellen, was ihre Mutter oder Grace an ihrer Stelle getan hätten. Bestimmt wären sie tapferer gewesen. Sie würden genau wissen, was zu tun war. Ihre Mutter hatte einst nach denselben Zeichen gesucht. Dessen war Amy sich jetzt sicher. Grace wollte, dass Amy die Herausforderung annahm, aber was, wenn Amy ihr nicht gewachsen war?
Im Moment hatte sie das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben. Jedes Mal wenn sie den Mund hätte aufmachen müssen, um sich zu verteidigen, hatte sie versagt. Die anderen Teams hielten sie wahrscheinlich für eine nuschelnde Looserin. Wenn Dan nicht gewesen wäre, hätten sie bestimmt schon verloren. Allein wenn sie darüber nachdachte, hatte sie einen dicken Kloß im Hals.
Sie hatten das ganze Brot aufgegessen und Amy wusste, dass
sie schnell weitermussten. Sie starrte an den immer dunkler werdenden Himmel und versuchte, sich an Einzelheiten aus ihren Reiseführern über Paris zu erinnern. »Es gibt keine Metrolinien zur Île St-Louis«, sagte sie. »Wir werden laufen müssen.«
»Dann los!« Dan sprang auf die Füße.
Amy konnte nicht fassen, wie schnell er sich erholt hatte. Vor ein paar Minuten hatte er sich noch über seine schmerzenden Füße und seinen schweren Rucksack beklagt. Jetzt, ein Stück Brot später, war er so gut wie neu. Amy wünschte, sie wäre auch so. Sie wollte sich einfach nur zusammenrollen und mindestens hundert Jahre lang schlafen. Doch das hätte sie vor Dan niemals zugegeben.
Als sie am Pont Louis-Philippe ankamen, war es bereits dunkel. Die steinerne alte Brücke war von Lampen erleuchtet, deren Licht sich im Wasser spiegelte, sodass es aussah, als ob der Fluss glühte. Auf der anderen Seite der Brücke sah man viele Bäume und Häuser - die Île St-Louis. Nördlich davon gab es noch eine größere Insel mit einer riesigen Kathedrale darauf, die in der Nacht hell erleuchtet war.
»Das dort drüben ist die Île de la Cité«, erklärte Amy, als sie über die Brücke liefen. Wenn sie redete, fühlte sie sich ruhiger. »Und das ist Notre-Dame.«
»Cool«, sagte Dan. »Glaubst du, wir können den buckligen Glöckner treffen?«
»Vielleicht später.« Amy brachte es einfach nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass der Glöckner von Notre-Dame nur eine Figur aus einem Buch war. »Egal, über die kleinere Insel - die Île St-Louis - steht kaum etwas in den Reiseführern. Es gibt dort vor allem alte Häuser und kleine Läden. Ich weiß nicht, was Irina dort sucht.«
»Keine Ben-Franklin-Geschichte?«
Amy schüttelte den Kopf. »Früher hieß sie die ›Insel der Kühe‹, weil dort niemand wohnte. Dann haben sie sie irgendwann bebaut.«
»Kühe«, sagte Dan. »Wie aufregend.«
Nach den anderen Vierteln, die sie von Paris gesehen hatten, fühlte sich die Île St-Louis wie eine Geisterstadt an. Die engen Gassen waren von eleganten alten Wohngebäuden gesäumt, die alle fünf Stockwerke hoch und mit schwarzen Giebeldächern bedeckt waren. Die meisten Fenster waren dunkel. Viele der Geschäfte waren geschlossen. Straßenlaternen warfen seltsame Schatten durch das Geäst der Bäume, die wie Umrisse von Monstern auf den Wänden erschienen. Amy war zu alt, um an Monster zu glauben, doch die Schatten ließen sie trotzdem
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