Die 39 Zeichen 02 - Mozarts Geheimnis
dich.« Dan steuerte sie noch einen weiteren engen Kanal entlang und vor ihnen lag wieder der Canale Grande. »Wenn wir erst wieder auf der Hauptstraße sind, ist es leicht, die richtige Abzweigung zur Royal Saladin zu finden.«
Der Motor jaulte protestierend auf, doch Dan kannte keine Gnade. Er drückte den Gashebel bis zum Anschlag durch und verlangte dem kleinen Motor alles ab, was er hergab. Der Wind in seinem Haar steigerte nur seine Begeisterung. In ein paar Sekunden würden sie auf dem Canale Grande sein. »Ha!«, jubelte er. »Man braucht eben mehr als ein Eine-Million-Dollar-Kanu, um einen Cahill zu überlisten!«
Genau in diesem Moment versperrte ihnen eine Wand aus glänzendem Metall den Weg. Wo eine Sekunde zuvor noch das glitzernde offene Wasser des breiten Kanals gelockt hatte, schob sich nun die High-Tech-Jacht in voller Länge in ihren Weg.
Verzweifelt riss Dan den Hebel nach hinten, doch sie hielten nicht an. Der Motor kreischte und ging aus, während das Boot schnurgerade seinen Kollisionskurs fortsetzte.
Amy hörte jemanden schreien und erkannte ihre eigene Stimme wieder. Dan schloss die Augen, als das Motorboot die Jacht rammte und zerbarst wie ein Modellschiff aus Balsaholz.
Dann wurde alles schwarz.
Siebzehntes Kapitel
Amy war nicht mehr in Venedig.
Sie stand in einer seltsamen unterirdischen Kammer, die in den Kalkstein unterhalb einer Pariser Kirche im Stadtteil Montmartre gehauen worden war. An der Wand vor ihr befand sich ein verblasstes Fresko, das vier Geschwister zeigte, die alle den Namen Cahill trugen. Luke, Thomas, Jane und Katherine - die Ahnen der Familienzweige Lucian, Tomas, Janus und Ekaterina. In einiger Entfernung war noch ein brennendes Haus dargestellt. Selbst zu dieser Zeit - vor Jahrhunderten also - herrschten in der Familie Cahill nichts als Konflikt, Gewalt und Tragik.
Und das hat sich bis heute nicht geändert. Wir gehen uns immer noch an die Gurgel - dieses Mal wegen der 39 Zeichen. Worüber haben sie wohl damals so gestritten?
Das Bild änderte sich und zeigte ein anderes brennendes Haus. Amy verspürte einen Stich, als sie ihr Zuhause erkannte. Ihre armen Eltern waren im Feuer gefangen …
Aber halt! Sie versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Wie kann ich mich daran erinnern? Ich habe das Feuer doch gar nicht mit angesehen! Ich musste aus ihm herausgezerrt werden!
Amy und Dan waren gerettet worden. Ihre Eltern …
Das Gefühl der Trauer wurde übermächtig - ein stürmischer Wind, dem man unmöglich standhalten konnte.
Lass es aufhören …
Das Bild verwandelte sich in etwas, an das sie sich nur allzu gut erinnerte. Das Begräbnis - dunkle Wolken, dunkle Anzüge und dunkle Schleier. Tränen - so viele davon, und dennoch nicht genug, für das, was geschehen war. Überall düstere Gesichter - der vierjährige Dan, noch zu jung, um zu begreifen, dass ihnen an diesem Tag das Herz gebrochen worden war; Grace, die nun ebenfalls tot und fort war; die furchtbare Tante Beatrice; Mr McIntyre, war er Freund oder Feind? Sie konnten sich nicht sicher sein. Sie konnten sich nie ganz sicher sein …
Weit entfernt von der Grabstätte ihrer Eltern zeichnete sich eine weitere Gestalt undeutlich im Nebel ab, die ebenfalls ganz in Schwarz gekleidet war.
Unmöglich! Daran kann ich mich auf gar keinen Fall erinnern!
Doch das Bild wurde immer klarer - die grauen Haare, die stechenden Augen. Ein Mann. Seine Lippen bewegten sich. Er rief nach ihr. Was wollte er ihr sagen?
»Amy …«
Sie schlug die Augen auf. Dan kauerte über ihr und schüttelte sie sanft am Arm. Seine Haare und seine Kleider waren nass. Auch ihr T-Shirt und ihre Jeans fühlten sich kalt und feucht an, ihre Zehen steckten in klammen Socken und Schuhen. Ihr ganzer Körper schmerzte und
war übersät mit zahllosen Beulen und blauen Flecken. Dans Lippen waren geschwollen. Ein Schnitt zog sich über seine Wange. Es sah böse aus.
Das Motorboot. Der Unfall …
Amy setzte sich auf. »Wo sind wir?« Das Zimmer war winzig, wie ein Koje, und doch eigenartig luxuriös, mit schwerem, dunklem Holz ausgekleidet und mit glänzenden Messingknöpfen an eingebauten Schubladen und Schränken.
»Psst«, flüsterte ihr Bruder. »Ich glaube, wir sind auf der Jacht.«
Schwankend kam sie auf die Beine. Das Deck neigte sich ein wenig. Von irgendwoher hörte sie Wasser plätschern.
»Die Tür ist verschlossen«, informierte sie Dan, als er sah, dass sich ihre Augen zu der versperrten Luke bewegten. »Ich habe draußen
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