Die 39 Zeichen 04 - Der Schatz des Pharao
Jahre lang benutzt hat. Sie wollte, dass ihr ihn bekommt.« Sie schob ihn über den Tisch zu Amy rüber.
Es war ein dickes Buch, der Einband war verzogen und fleckig, die Seiten stark abgegriffen.
»Natürlich ist er nicht mehr ganz aktuell«, meinte Hilary mit einem Lächeln. »Doch die Dinge ändern sich hier nicht so schnell.«
Amy blätterte das Buch auf. Sie sah am Rand Notizen in Grace’ geschwungener Handschrift.
Gutes Essen, Reise 1972
Nun, das klang nicht wirklich hilfreich.
»Und das hier ist ihre letzte Weihnachtskarte«, fuhr Hilary fort. »Darin findet ihr eine Nachricht an euch.«
Auch die Karte reichte sie an Amy. Dan rückte seinen Stuhl näher heran, damit er etwas sehen konnte.
Die Karte war aus dem Kunstmuseum in Boston. Grace hatte sie viele Male dorthin mitgenommen. Sie zeigte die Reproduktion eines alten Ölgemäldes, die Heiligen Drei Könige, wie sie mit ihren Geschenken bei der Krippe ankommen.
Liebste Hilary,
eine frohe Weihnacht und viel Liebe wünsche ich Dir und den Deinen. Ich vermute, dass meine Enkelkinder bald in Kairo eintreffen werden. Daher ist es an der Zeit, Dich an das Versprechen zu erinnern, das Du mir vor langer Zeit gegeben hast.
Bitte gib diese Nachricht an meine
Lieben – Dan und Amy – weiter.
Schätze,
Ägypten ist voll wunderbarer Dinge.
Willkommen! Ich hoffe, Ihr werdet Euch hier wohlfühlen.
Es ist ein Land, das immer noch mit mir komminiziert, sogar in meinen Träumen. Wenn ich auch nur eine halb so gute Großmutter gewesen wäre, wie ich es hätte sein sollen, wäre ich selbst mit Euch dorthin gefahren.
Ich wünschte nur, dass ich mit Euch den Pfad folgen könnte, den auch ich vor langer Zeit entlanggeschritten bin. Vergesst die Kunst nicht! Ihr könnt das Grundsätzliche immer noch ans Ende setzen.
Mit all meiner Liebe,
Grace
PS: Mrs Fenwick möchte, dass ihr Grüße an Saladin ausrichtet!
Amy und Dan starrten auf die Karte. Grace’ Hand hatte einst den Stift gehalten und diese Linien und Bögen gezeichnet. Sie hatte einen Füllfederhalter benutzt, wie sie es immer bei wichtigen Schriftstücken tat. Das »G« in »Großmutter« war dunkler als der Rest des Wortes. Obwohl sie wussten, dass Grace bereits schwer krank gewesen war, als sie dies hier geschrieben hatte, erschien die Handschrift kräftig und klar. Sie hatte gewusst, dass sie dies hier erst nach ihrem Tod lesen würden.
Sogar der Schreibfehler in »kommuniziert« hinterließ bei Amy ein schwindeliges Gefühl. So als wäre ihre Großmutter nur im Nebenzimmer, wo sie ihre Weihnachtskarten schrieb und rief: »Bringt mir doch bitte ein bisschen Eierlikör, ihr Lieben! Ich kann meine Weihnachtslaune noch nicht finden.«
Sie hatte ihnen eine Nachricht hinterlassen. Nach all den Wochen des Rätselratens war sie nun da. Aber irgendetwas stimmte nicht.
Die Nachricht war persönlich, sie hatte sie immer ihre »Schätze« genannt, und doch war sie gleichzeitig auch unpersönlich. Sie klang so fröhlich, während sie sie drängte, sich Ägypten anzusehen. Als ginge es hier um nichts anderes als Touristen kram.
Sie sah zu Dan hinüber. In seinem Gesichtsausdruck spiegelten sich ihre Gefühle. Sie sah, wie verblüfft und tief verletzt er war. Was für eine letzte Nachricht sollte das hier sein?
Dan streckte die Hand nach dem Umschlag aus. »Der Poststempel ist aus Nantucket«, sagte er. »Vom letzten Jahr.«
Amy und Dan sahen sich an. Ihre Gedanken wanderten hinaus aus dem Raum, verließen diese heiße, seltsame Stadt und begaben sich an einen Ort, den sie gut kannten. Grace hatte ein kleines Haus in Sconset auf der Insel Nantucket, vor der Küste von Massachusetts. Sie erinnerten sich an einen blauen Himmel und flauschige Wolken, an Luft, die nach Salz schmeckte. An Grace, die Maiskolben grillte und Kräuterbutter machte, während sie rief »Der Letzte isst eine Boa Constrictor!« und das Prickeln des kalten, frischen Ozeans.
»Erinnerst du dich an die Alte Fenwick?«, fragte Dan.
Amy lächelte. Betsy Fenwick war ihre Nachbarin gewesen. Amy erinnerte sich zwar nicht mehr daran, wer ihr diesen Spitznamen gegeben hatte, aber wie er zustande kam. Betsy stammte aus »einer der ältesten Familien von Beacon Hill« in Boston, und es gelang ihr stets, diese Information in jedes Gespräch mit einfließen zu lassen. Sie mochte Grace nicht, weil sie ihre Rosenbüsche wuchern ließ und in alten Hosen und einer Yankees-Kappe die Gartenarbeit verrichtete.
Mrs Fenwick mochte auch keine Katzen.
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