Die 39 Zeichen 06 - Gefahr am Ende der Welt
und es war in Wahrheit Isabel, die log. Amy drehte sich der Magen um.
Vertraut niemandem , hatte Mr McIntyre gesagt. Zum ersten Mal begriff sie, was das eigentlich bedeutete. Der Einsatz war noch viel höher, als sie gedacht hatte. Die Lügen fügten ihr tiefe Verletzungen zu. Sie trafen sie mitten ins Herz.
»Was meinst du, Amy?« Isabel sah sie besorgt an. »Es tut mir schrecklich leid, dass ich dich so plötzlich mit all dem belasten muss, aber wenn du überleben willst, musst du einfach schneller werden.«
Warum nahm Isabel an, dass Amy ihr glauben würde? Nur weil Ian sie so leicht übers Ohr gehauen hatte? Sie sah zu ihm hinüber. Sein Blick ruhte auf seiner Mutter und Amy sah sein hübsches Profil. Seit sie an Bord waren, hatte er kaum ein Wort gesprochen. Er hatte sie nicht einmal angesehen, nicht ein einziges Mal.
Er hatte sie immer wieder angelogen. Hatte er wohl seiner Mutter erzählt, wie leichtgläubig Amy war?
Ist ja auch egal , dachte Amy. Wenn es die Wahrheit war, würden sie und Dan sich überlegen, was zu tun war. Gemeinsam. Sie waren ein Team. Sie hatten es zusammen bis hierher geschafft.
Stolz reckte sie ihr Kinn empor. »Dan und ich können unsere Probleme allein bewältigen. Also danke, aber lieber nicht.«
Auf Isabels Wange zeigte sich ein Hauch von Rot und über ihrer Oberlippe sah Amy winzige Schweißperlen stehen. »Denk noch einmal darüber nach«, beschwor Isabel sie. »Ich kann dir das Angebot nicht noch einmal machen.«
»Das ist meine endgültige Antwort«, betonte Amy.
Isabel stutzte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann lächelte sie. »Ich verstehe. Dann bringe ich dich zurück.«
Sie stand auf und ging zur Reling. »Aber vorher wollen wir uns noch einen Augenblick Zeit nehmen, um diese wunderschöne Bucht zu bewundern. Australien hat die schönsten Strände der Welt, findest du nicht? Natürlich muss man auf
die Brandung aufpassen und ein Auge auf Quallen und Haie haben, aber wie groß ist schon die Chance, dass man einem Hai begegnet? Haie greifen Menschen nur sehr selten an. Ich finde, es sind wunderschöne Tiere. Wusstest du, dass der Weiße Hai ständig auf Nahrungssuche ist? Das ist seine Bestimmung im Leben, und deswegen weiß er genau, was er zu tun hat. Er kann dir mit einem Biss den Arm oder das Bein abreißen, aber das kann man ihm ja nicht vorwerfen. Und wenn dann das Blut ins Wasser strömt, bleibt ihm doch gar nichts anderes übrig, als weiter zu fressen, oder?«
»Mutter, bitte …«, begann Ian, aber Isabel redete einfach weiter.
»Bist du schon mal in einem Haikäfig gewesen? Ich schon. Ich habe dem Hai in die Augen gesehen. Das ist, als würde man dem Tod direkt ins Auge blicken.«
Isabel ging zum Lagerraum am anderen Ende des Decks. Sie öffnete die Klappe und holte einen großen weißen Eimer heraus. Amy sah, wie sich beim Anheben die Muskeln ihrer Oberarme anspannten. Sie trug den Eimer zur Reling und schöpfte etwas daraus ins Wasser.
Der Geruch stach Amy in die Nase und plötzlich war ihr alles klar. Isabel warf Fischteile ins Wasser. Amy konnte die schleimigen weißen Brocken und die blutigen Stücke jetzt deutlich erkennen.
Sie spürte, wie Ian neben ihr erstarrte. Er klammerte sich mit beiden Händen an seinem Sitzkissen fest.
Isabel sah ihn nicht an. Sie lächelte in sich hinein, während sie den makaberen Eintopf ins Wasser kippte.
Amy blickte hinaus auf das ruhige blaue Meer. Da sah sie die
Rückenflosse. Wenige Meter vom Boot entfernt bewegte sie sich in einer Linie auf und ab. Weiter weg entdeckte sie eine weitere. Die Haie hatten das Blut gerochen. Nun kreuzten sie auf und ab und kamen dabei immer näher.
Isabel richtete sich auf und ging zu dem Spender neben dem Steuer und pumpte sich Desinfektionsmittel auf die Hand. Dann rieb sie sich energisch die Hände ein.
»Na schön«, sagte sie fröhlich. »Wie wäre es denn, wenn du mir jetzt alle Zeichen verraten würdest, die du und dein Bruder schon gesammelt habt? Oder möchtest du lieber schwimmen gehen?«
Zehntes Kapitel
Isabels Gesicht zeigte keine Spur von Grausamkeit. Das machte Amy am meisten Angst. Sie lächelte noch immer ihr freundliches Lächeln.
»Sind Sie nun völlig verrückt geworden?«, fragte Amy.
Aber Isabel wirkte nicht verrückt. Erst jetzt konnte Amy die eisige Schicht unter der vorgetäuschten Wärme erkennen.
»Du brauchst nicht einmal einen Badeanzug«, plapperte Isabel. »Das ist schon nach wenigen Sekunden völlig überflüssig. Oder Minuten. Am Anfang
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