Die 39 Zeichen 09 - Ruf der Karibik
ihr ohne jeden Kommentar den Verbandskoffer.
Nachdem Nellie Amy das Blut aus dem Gesicht gewischt hatte, sah sie schon um einiges besser aus, stellte Dan erleichtert fest. Abgesehen von einer sieben Zentimeter langen Schnittwunde auf der Stirn, gleich über der linken Schläfe.
»Kopfwunden bluten immer sehr stark, das sieht oft schlimmer aus, als es wirklich ist«, erklärte Nellie, nun wieder ganz gefasst und routiniert. Sie reinigte die Wunde und schloss sie mit einem Nahtpflaster. Dann wickelte sie noch einen Verband um Amys Kopf. Sie hielt einen Finger vor Amys Gesicht und bewegte ihn von links nach rechts und wieder zurück, um zu prüfen, ob ihre Augen ihm folgten. Dann stellte sie ihr noch einige einfache Rechenaufgaben.
»Wir lassen dich noch einmal von einem Arzt untersuchen, wenn wir im Hotel sind«, erklärte Nellie. »Bis dahin ruhst du dich aus.« Schnell breiteten sie und Dan ein paar Kissen und Handtücher aus, damit sich die Verletzte auf dem Tragdeck des Katamarans bequem ausstrecken konnte.
Amy beteuerte immer wieder, es ginge ihr gut und sie wolle den anderen nicht den Ausflug verderben. Aber der Kapitän blieb eisern. Das Boot würde zum Oceanus zurückkehren und Nellie samt ihren Schutzbefohlenen absetzen, damit Amy von einem Arzt versorgt werden konnte.
Während Nellie für sie etwas zu trinken besorgte, setzte sich Dan zu seiner Schwester. Seine Beine zitterten noch immer und sein Magen war ein nervöser Klumpen. Seltsam. Sie waren schon einige Male in Gefahr gewesen, aber er konnte sich nicht erinnern, jemals solche Angst verspürt zu haben. Als er Amys blutüberströmtes Gesicht gesehen hatte … Ihm schauderte trotz der warmen Sonne.
Wenn wir Nellie nicht mehr vertrauen können und wenn – wenn Amy etwas Schlimmeres passiert wäre …
Er schluckte und traute sich nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Stattdessen blickte er versonnen aufs Meer hinaus. Es waren viele Boote auf dem Wasser – darunter eine Slup mit großen weißen Segeln, ein Dingi mit Regenbogen-Spinnaker und eine schicke schwarze Jacht. Er streckte einen Arm über die Reling und spürte ein Kratzen am Handgelenk.
»Das hab ich ja total vergessen!«, murmelte er vor sich hin.
Die um sein Handgelenk geschlungene Kette war von seinem Pulloverärmel verdeckt worden.
»Was ist das?«, fragte Amy neugierig.
Dan wandte den anderen Passagieren den Rücken zu und nahm die Kette vom Arm. Sie hatte einen Anhänger – ein dünner, geschwungener, spitzer Gegenstand, einige Zentimeter lang. Kette und Anhänger waren grau angelaufen, aber man konnte deutlich erkennen, dass sie mal gelb gewesen waren.
»Gold«, meinte Dan höchst zufrieden. »Silber wäre auch in Ordnung gewesen, aber alles andere wäre längst vom Salzwasser zerfressen worden.«
»Ist das ein Haizahn?«, wollte Amy wissen. Sie berührte ihn zögerlich, als habe sie Angst, er könne sie beißen.
Dan schüttelte den Kopf. »Nein, die sind eher dreieckig«, erklärte er. »Und flacher. Das hier sieht eher aus wie eine Klaue oder eine Kralle.«
» Wow «, staunte Amy. »Das muss aber ein großer Vogel gewesen sein.«
»Vielleicht ein Adler oder ein Falke.«
»Oder ein Riesenhuhn«, kicherte Amy.
Dan sah seine Schwester erstaunt an. Wenn es um die Zeichenjagd ging, war Amy selten für Scherze zu haben. Vielleicht hatte ihr Kopf ja doch was abgekriegt.
Als könne sie seine Gedanken erraten, verkündete sie: »Mein Hirn ist wohl nur noch Matsch. Dabei ist es so einfach.«
»Dein Hirn? Dein Hirn ist einfach?«
» Haha . Aber denk doch mal nach. Das war eine Höhle der Tomas. Und? Klingelt da was bei dir?«
Und tatsächlich ging Dan buchstäblich ein Licht auf. Seine Schwester war wirklich verdammt schlau.
»Eine Bärenklaue«, platzten beide gleichzeitig heraus.
Sechstes Kapitel
Ian stellte sein Fernglas ein.
»Er hat auf jeden Fall etwas in der Hand«, verkündete er. »Aber ich bin mir nicht sicher, was es ist. Vielleicht … Hm, es ist lang und spitz.«
»Schon wieder ein Zahn?«, vermutete Natalie.
Sie warf einen Blick auf das Handgelenk ihrer Mutter. Isabel trug ein Armband aus schweren goldenen Gliedern, an denen eine kleine Sammlung kostbarer Glücksbringer befestigt war. Einfach und klassisch , dachte Natalie. Weniger ist eben mehr. Auch wenn die Leute das einfach nicht glauben wollen.
Einer der Glücksbringer war ein vergoldeter Wolfsfang. Natalie wusste nicht, warum dieser Gegenstand ihrer Mutter so wichtig war. Sie wusste nur, dass er
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