Die 39 Zeichen 09 - Ruf der Karibik
würde. Nein, weil es gegen jedes Prinzip der Geschichtswissenschaft verstößt. Ihr glaubt, ihr habt einen guten Grund, das Kästchen an euch zu nehmen. Dasselbe glaubt aber auch jede andere Person, Organisation oder Regierung der Welt, die jemals Artefakte von ihrem Ursprungsort entfernt hat.«
»Aber wir geben sie zurück! Ehrenwort!«
Nellie kreuzte heimlich die Finger hinter ihrem Rücken und hoffte, sie würde die Wahrheit sagen.
»Es geht nicht darum, dass ich euch nicht traue«, erklärte Lester. »Ich kenne euch ja nicht mal. Aber die Tatsache, dass du Grace kanntest und die beiden ihre Enkel sind – ich wünschte, das würde ausreichen. So ist es aber nicht. Tut mir leid.«
Nellie fühlte einen dicken Kloß im Hals. Sie würden die Schatulle stehlen müssen. Und wenn ihnen das gelingen sollte, würden Lester, der so freundlich zu ihnen gewesen war, und auch Miss Alice sie hassen.
Lester sah sie so eindringlich an, dass es fast schmerzte. Sie hielt seinem Blick jedoch stand, wagte aber nicht, zu blinzeln oder zu atmen, und hoffte einfach, ihr Gesicht verriete nicht, dass sie bereits in diesem Augenblick darüber nachdachte, wie sie an die Schatulle kommen könnten.
Nach einer halben Ewigkeit schien er einen Entschluss gefasst zu haben und senkte den Blick.
»Ihr könnt sie nicht mitnehmen«, verkündete er nüchtern. »Aber ich kann es. Wenn ich erzähle, dass ich sie gerne näher untersuchen würde, dann erlauben sie mir sicher, dass ich sie von hier entferne. Also, es läuft folgendermaßen: Was auch immer ihr mit dem Kästchen vorhabt, ihr macht es in meinem Beisein. Schluss. Aus. Keine Diskussionen mehr!«
Nellie schlang die Arme um seinen Hals. Nicht dass sie sich dazu hätte überwinden musste, schließlich war er echt …
»Tausend Dank, Lester! Du wirst es nicht bereuen. Versprochen!«
Die überschwängliche Reaktion ihres Au-Pair-Mädchens ließ Dan und Amy aufhorchen. Nellie reckte ihnen triumphierend den Daumen entgegen.
»Juhu!«, freute sich Dan und versuchte sich mutig an einem Moonwalk.
Nellie sah verwirrt zu Amy. Die schenkte Lester ein entschuldigendes Lächeln und zuckte nur mit den Achseln, als sie Nellies Blick auffing.
Mann, die ist echt ’ne harte Nuss , dachte Nellie. An Dan komme ich vielleicht ran, aber an dem Mädchen beiße ich mir noch die Zähne aus …
Mit einem verlegenen Grinsen befreite sich Lester aus Nellies Umarmung. Er nahm die Schatulle und steckte sie zurück in die Plastikhülle.
»Na, dann spreche ich jetzt einmal mit meinem Chef«, sagte er. »Ich treffe euch dann draußen.«
Als sie aus der Hütte traten, sahen sie schwarze Gewitterwolken aufziehen. Der Wind fuhr mit einem unheimlichen Flüstern durch die Palmen.
Amy rieb sich die Arme. Die Luft war zwar warm und feucht, aber der Wind fühlte sich kalt an.
»Sieht so aus, als würde ein Sturm aufziehen«, sagte Nellie.
Aber Amy war das Wetter egal. Sie beschäftigte nur ein Gedanke: ihr Drachenmedaillon.
»Jetzt werde ich es wohl abschneiden müssen«, meinte sie traurig. Mag sein, dass Grace schon immer eine böse Madrigal war , dachte sie, aber das Halsband habe ich schon geliebt, bevor ich irgendwas davon wusste .
»Vielleicht brauchen wir es ja nur, um das Schmuckkästchen aufzukriegen«, beschwichtigte Dan. »Danach kannst du das Halsband wieder reparieren.«
»Ähm, das könnte schwierig werden«, schaltete sich Nellie nun ein. »Damit Lester uns die Schatulle gibt, hab ich ihm erzählt, wir wüssten, wie man sie öffnet, und wir würden ihm das Geheimnis verraten, wenn wir sie ihm zurückgeben.«
»Das ist okay«, meinte Dan. »Wir können ihm ja sagen, wie man sie öffnet, aber deswegen müssen wir ihm ja nicht alle Schlüssel dazu geben.«
Amy schien Zweifel zu haben. »Ich weiß nicht«, zögerte sie. »Wozu soll es denn gut sein, zu wissen, wie man das Ding öffnet, wenn einem die Schlüssel dazu fehlen?«
»Sie könnten sich ja Kopien von dem Medaillon und den anderen Sachen anfertigen lassen«, beharrte Dan.
Amy sah ihn voller Zuneigung an. Er wusste, wie viel ihr Grace’ Halsband bedeutete.
Gerade da trat Lester aus der Wellblechhütte. Er hatte ein umwickeltes Paket bei sich.
Die Schatulle.
Amy spürte, wie sich jede Faser ihres Körpers vor Anspannung zusammenzog.
»Also gut, wo wollen wir es machen?«, fragte Lester.
Amy dachte kurz nach. »Nellie, wie wär’s, wenn wir uns ein Hotel suchen? Dann haben wir etwas Privatsphäre.«
»Das Royal Harbour Hotel liegt
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