Die 4 Frau
Ende hier in diesem Raum zu treffen.
»Es ist doch ein alter Brauch, einer Verurteilten noch eine letzte Zigarette zu gönnen, nicht wahr, Lindsay?«
»Ja, klar doch«, sagte ich. »So viele, wie du willst.«
Ich angelte nach einer Packung Marlboro, die oben auf einem Aktenschrank lag, riss sie auf und legte sie mit gespielter Gelassenheit zusammen mit einem Streichholzheftchen neben Carolees Ellbogen.
Ich konnte es kaum erwarten, die Geschichte des Jungen zu hören, dessen früher Tod mich über so viele Jahre in Gedanken verfolgt hatte.
»Danke«, sagte Carolee, die Lehrerin, die Mutter, die Retterin der missbrauchten Kinder.
Sie zog das Zellophan und die Alufolie von der Packung ab und klopfte eine Zigarette heraus. Ein Streichholz flammte auf, und Schwefelgeruch breitete sich aus.
»Keith war erst zwölf, als er in meine Schule kam. Genauso alt wie mein Sohn Bob«, sagte sie. »Prachtjungen, alle beide, die zu den schönsten Hoffnungen Anlass gaben.«
Ich hörte gebannt zu, als Carolee Brian Miller beschrieb, einen älteren Jungen, der von zu Hause weggelaufen war, ihr Vertrauen gewonnen hatte und schließlich Betreuer an ihrer Schule geworden war.
»Brian hat sie beide wiederholt vergewaltigt, Bob und auch Keith, und er hat auch ihren Seelen Gewalt angetan. Er hatte ein Armeemesser, und er drohte ihnen, dass er sie zu Mädchen machen würde, wenn sie je irgendjemandem verrieten, was er ihnen angetan hatte.«
Tränen quollen aus Carolees Augen. Sie wedelte den Rauch weg, als sei er es, der sie fließen ließ. Ihre Hand zitterte, als sie einen Schluck von ihrem Kaffee nahm.
Das einzige Geräusch im Zimmer war das leise Sirren des Magnetbands, das über die Spulen des Kassettenrekorders lief.
Als Carolee weitersprach, war ihre Stimme leiser. Ich beugte mich vor, um nur ja kein Wort zu verpassen.
»Nachdem Brian sich genug an den Jungen vergangen hatte, verschwand er. Und nahm ihre Unschuld mit, ihre Würde, ihre Selbstachtung.«
»Warum hast du nicht die Polizei benachrichtigt?«
»Ich habe es ja gemeldet, als Bobby mir endlich erzählte, was passiert war, aber da war schon viel Zeit vergangen. Und die Polizei interessierte sich zudem nicht sonderlich für meine Schule für Ausreißer. Es dauerte Jahre, bis Keith wieder lächeln konnte«, fuhr Carolee fort. »Bob war sogar noch zerbrechlicher. Als er sich dann die Pulsadern aufschnitt, musste ich irgendetwas unternehmen.«
Carolee zupfte abwesend an ihrem Uhrarmband, eine anmutige, feminine Geste, doch ihre Züge waren von Zorn entstellt, von einer Wut, die noch so frisch und lebendig schien wie vor zehn Jahren.
»Sprich weiter«, sagte ich. »Ich höre dir zu, Carolee.«
»Ich fand heraus, dass Brian in einem Stundenhotel im Tenderloin District wohnte«, erzählte sie. »Er verkaufte dort seinen Körper. Ich lud ihn zu einem guten Essen mit jeder Menge Wein ein. Ich erinnerte mich daran, wie sehr ich Brian anfangs gemocht hatte, und er fiel auf meine Masche herein. Er glaubte, ich sei immer noch seine Freundin.
Ich bat ihn ganz freundlich um eine Erklärung. Nach seiner Darstellung hatte es sich bei dem, was zwischen ihm und den Jungen ablief, um ›romantische Liebe‹ gehandelt. Kannst du das glauben?«
Carolee lachte und schnippte die Asche von ihrer Zigarette in einen Alu-Aschenbecher.
»Ich ging mit ihm auf sein Zimmer«, fuhr sie fort. »Ich hatte ihm seine Sachen mitgebracht: ein T-Shirt, ein Buch und andere Kleinigkeiten.
Als er mir den Rücken zukehrte, packte ich ihn und schlitzte ihm mit seinem eigenen Messer die Kehle auf. Er konnte nicht fassen, was ich getan hatte. Er wollte schreien, aber ich hatte ja seine Stimmbänder durchtrennt. Dann schlug ich ihn mit meinem Gürtel, während er im Sterben lag. Es war gut, Lindsay. Das Letzte, was Brian sah, war
mein
Gesicht.
Das Letzte, was er hörte, war
meine
Stimme.«
Das Bild von John Doe Nr. 24 stieg vor meinem geistigen Auge auf, durch Carolees Erzählung mit Leben gefüllt. Selbst wenn er all das gewesen war, was Carolee von ihm behauptet hatte, war er doch auch ein Opfer gewesen, ohne Prozess verurteilt und hingerichtet.
Der letzte unglaubliche Zufall – ein echter Hammer – war, dass Carolee die Worte »Keinen kümmert's« an die Wand des Hotelzimmers gesprüht hatte. Sie waren in allen Presseberichten zitiert worden. Zehn Jahre später wurden die Zeitungsausschnitte in Sara Cabots bizarrer Sammlung von Berichten über wahre Verbrechen gefunden. Sie und ihr Bruder hatten den
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