Die 500 (German Edition)
die vermuteten, dass es um mehr als erweiterten Selbstmord ging. Andere Gerüchte besagten, dass die Polizei nach einem Killer suchte, der noch frei herumlief.
Jede neue Meldung bestärkte mich in meiner Zuversicht. Ein Teil von Henrys Macht lag in seinem Ruf begründet, dass er allmächtig und allgegenwärtig sei, dass er jeden, egal, wie einflussreich, manipulieren und die Welt nach seinem Gusto gestalten konnte. Aber dieser Ruf fing an zu bröckeln. Marcus’ und Davies’ Geschichte entpuppte sich als ziemlich wirr. Ich konnte mich ein bisschen entspannen, weil ich sah, dass sogar ihre Macht Grenzen hatte. Sicher hatten sie ein paar Polizisten am Ort bestochen, aber das ganze FBI? Keine Chance. Meine Entscheidung war richtig gewesen.
Ich ging weiter meiner Arbeit bei Davies nach. Gegen Viertel vor acht am Abend desselben Tages saß ich noch in der juristischen Bibliothek im Erdgeschoss. In Zusammenhang mit dem Fall Rado Dragov i ´ c hatte ich mich in den Alien Tort Statute vergraben. Ich hörte Lärm aus der Lobby. Normalerweise war das Gebäude um diese Zeit fast leer.
Ich folgte den Geräuschen und ging die Treppe hinauf. Als ich die Tür zum zweiten Stock aufmachte, sah ich ein paar Detectives, die sich von mir entfernten und durch den Flur auf die Vorstandssuiten von Marcus und Davies zugingen.
Ich unterdrückte ein Lächeln. So viel zum Thema Allmacht. War die Polizei Henrys Rolle bei den Morden so schnell auf die Spur gekommen? Fast war ich enttäuscht. Ein bisschen mehr sportlichen Wettkampf hatte ich schon erwartet.
Kurz darauf kam Henry Davies aus seinem Büro und stolzierte mit den Detectives im Schlepptau in meine Richtung. Ich zog mich wieder ins Treppenhaus zurück. Henry machte nicht im Mindesten den Eindruck eines Mannes, der jeden Augenblick ins Blitzlichtgewitter der Pressemeute tritt.
Als ich im ersten Stock, wo sich mein Büro befand, durch die Treppenhaustür in den Flur lugte, begann ich langsam zu begreifen. Durch die Fenster sah ich eine Streifenwagenarmada in blau-rot blinkender Festbeleuchtung. Als ich in einen Seitengang schlüpfte, sah ich, dass Henry die Detectives zu meinem Büro führte. Kurz danach bezog ein Beamter Stellung am Eingang zum Haupttreppenhaus. Weitere Beamte drängelten sich vor meinem Büro.
Ich schaltete mein Blackberry ein und schaute nach, ob es Neuigkeiten gab. Ich brauchte nicht lange zu suchen. Auf allen Websites prangten Balkenüberschriften. Ich hatte gerade die Manege betreten.
Die Zeitungen nannten zwar nicht meinen Namen, aber laut verschiedener offizieller Quellen aus dem Umfeld der Ermittlungen hatte die Polizei in den Mordfällen von Richter Malcolm Haskins und Irin Dragov i ´ c eine »verdächtige Person« ins Visier genommen. Henry hatte gesagt, dass er noch vor mir selbst über meinen nächsten Schritt informiert sein würde. Er musste irgendwie erfahren haben, dass ich gegen ihn vorging. Hatte er mir eine Falle gestellt, um mich als den Killer zu präsentieren?
Mich still und heimlich vor den Bullen zu verdrücken war zufällig eine meiner Spezialitäten, auch wenn ich schon ein bisschen eingerostet war. Einer meiner früheren Einbrecherkumpel, ein Bursche, den jeder nur Smiles nannte, hatte seine Einbrecherkarriere an den Nagel gehängt, auf »Office Creeper« umgesattelt und damit sein Einkommen verdreifacht. Sie würden staunen, mit welchem Tunnelblick die Leute an ihren Schreibtischen sitzen. Smiles suchte sich ein Bürogebäude aus und marschierte in einigermaßen anständigen Klamotten völlig unbehelligt hinein. Er klemmte sich ein paar Laptops, trank vielleicht in der Kantine noch einen Kaffee, winkte dem Sicherheitsmann zum Abschied freundlich zu und marschierte wieder raus.
Die Polizei hatte das Gebäude der Davies Group noch nicht ganz umstellt. Auf die Erfahrungen meines »Office-Creeper«-Kumpels bauend, hoffte ich, dass niemand den gut gekleideten, jungen Mordverdächtigen bemerken würde, der zwischen den nur zum Teil besetzten Büronischen auf seinen Ellbogen über den Teppichboden robbte.
Nach fünfzehn Metern hatte ich einen leicht auf seinem Bürostuhl wippenden Burschen mit Kopfhörer und einen der Schreibtische für die Vorstandssekretärinnen hinter mir gelassen. Dann kroch ich auf Augenhöhe an einer Sammlung High Heels vorbei, die die Senior Associate Jen immer unter ihrem Schreibtisch aufbewahrte. In der U-Bahn trug sie Sneaker, im Büro schlüpfte sie dann in ihre Büroschuhe.
Jede Sekunde strömten mehr
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