Die 500 (German Edition)
keine gesehen«, sagte er. »Beeil dich.«
Ich kannte meinen alten Herrn, er war ein Stoiker. Deshalb beunruhigte mich auch die Verzweiflung in seiner Stimme, die beklommene Anspannung.
Ich fuhr zur New York Avenue. Ich kannte die Gegend. Sie zog sich am Baltimore-Washington Parkway entlang und war das Eingangstor zu DC, eine üble Ecke voller Junkieabsteigen und leerer Industriegebäude.
Das Budget Motor Inn war eine Bruchbude erster Klasse: Huren auf Kundenfang; Bettlaken vor den Fenstern; Cracksüchtige, die bettelten oder an die im Stau stehenden Auto fahrer geklautes Zeug verhökerten, das immer aussah wie Sockenpackungen.
Aber HBO gratis, immerhin. Ein Drogendealer schaute mich finster an, als ich über den Parkplatz ging und die Zimmernummer ansteuerte, die mein Vater mir gegeben hatte. Das Schloss war aufgebrochen, die Tür angelehnt.
Als ich den Kopf hineinsteckte, blickte ich in den Lauf eines Revolvers. Als er mein Gesicht sah, nahm er sie herunter. Er lag auf seiner linken Seite auf dem Bett. An seiner rechten Schulter klebte ein Stapel Servietten, durchweicht, rot.
Kaffeeduft hing in der Luft. Wie der Vater, so der Sohn. »Willst du einen?«, fragte er. »Hab ich als Erstes gemacht. Hat mich gleich wieder aufgerichtet.«
Ich griff ihm unter die Arme, damit er sich aufsetzen konnte. Ein Tropfen Blut lief ihm aus dem Ohr.
»War das Henry?«
Er nickte.
»Ist er noch in der Nähe?«
»Möglich. Sie waren mit mir in einem der Lagerhäuser. Aber ich konnte abhauen.«
»Kannst du gehen?«
»Vorhin, als ich musste, ging’s noch, aber jetzt fühle ich mich ein bisschen wackelig. Wenn du mir hilfst, schaffe ich es die Treppe runter.«
Als ich ihm das Hemd überzog, sah ich auf Höhe der Nieren rote Striemen auf seinem Rücken. Ich legte seinen Arm über meine Schulter und ging mit ihm hinten um das Motel herum zu meinem Wagen.
»Ich bringe dich ins Krankenhaus.«
»Ist nicht nötig, Mike«, sagte er zwischen kurzen Atemstößen. »Cartwright kennt da jemanden. Einen Arzt, na ja, eher ein Tierarzt. Guter Arzt, aber schlechter Zocker, der schuldet ihm noch was. Der kriegt das schon hin.«
Ich schob ihn vorsichtig auf den Beifahrersitz. Von Henry und Marcus keine Spur. Wir bogen von der New York Avenue ab und fuhren auf Nebenstraßen Richtung Reservoir und Washington Hospital Center.
»Wenn du dich in einem Krankenhaus blicken lässt, Mike, schnappen sie dich. Da sind immer Bullen. Mir geht’s besser, als es vielleicht aussieht. Mach dir keine Sorgen.«
Ich fuhr weiter Richtung Krankenhaus. Ich würde mich auf keine Diskussion einlassen.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Ich hab sie vor dem Justizministerium gesehen, da bin ich hin und hab ihnen gesagt, dass du den Beweis schon hast.«
»Ich hab’s vermasselt, Dad«, sagte ich und schüttelte beschämt den Kopf. »Marcus hat die Akte verbrannt.«
»Gut so«, sagte er und schien nicht im Mindesten beunruhigt. »Ich hab das gesagt, um sie wegzulocken, damit du ein bisschen mehr Zeit hast. Henry hat die gleichen Schwächen wie wir alle. Er wird glauben, was er glauben will: dass jeder einen Preis hat, dass jeder einen Deal will. Das können wir gegen ihn einsetzen. Ich habe ihm gesagt, dass wir verhandeln wollen.«
»Und was ist der Deal?«
»Gar nichts. Als wir erst mal losgefahren waren, habe ich gesagt, tut mir leid, hab’s mir anders überlegt. Hättest ihn sehen sollen.« Er machte mit seinen Fingern die Blablabla-Geste. »Er hat mich angeblafft, dass ich wieder in den Bau wandern und sie mir für den Mord an Perry die Todesspritze verpassen würden. Ich hab nicht angebissen. Sie wollten mich gegen dich ausspielen, aber ich bin nicht drauf an gesprungen. Also sind Sie mit mir in irgendeine alte Lagerhalle gefahren. Und da hat Marcus mich in die Mangel genommen.«
Er verzog das Gesicht und veränderte seine Sitzposition. »Ein wahrer Künstler, dieser Bursche.«
»Was genau wollten sie von dir?«
»Henry wollte wissen, wie er an dich rankommt, damit er einen Deal mit dir machen kann. Wenn ich nicht rede, bringt er mich um, hat er gesagt. Darauf ich: Dann mal los. Das hat ihn erst richtig sauer gemacht. Ziemlich dünnhäutig, unser Henry.«
»Er ist es einfach nicht gewohnt, das einer Nein sagt.«
»Ich habe gemerkt, dass Marcus es etwas langsamer angehen lassen wollte, aber Henry hat ihn dauernd angebrüllt: ›Weiter! Weiter!‹ Aber ich war sowieso schon halb bewusstlos …« Er zuckte mit den Achseln. »War halb so wild. Ich
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