Die 6. Geisel - Thriller
erregt, er war ungepflegt, aber Lieutenant Jacobi und ich stellten fest, dass er bei klarem Verstand war und in der Lage, seine Situation einzuschätzen. Und das nenne ich geistig normal.«
»Danke, Sergeant Boxer«, sagte Yuki. »Ihre Zeugin.«
Die Augen der Geschworenen schwenkten zu dem adretten Mann, der neben Alfred Brinkley saß. Mickey Sherman stand auf, knöpfte den mittleren Knopf seines eleganten anthrazitfarbenen Sakkos zu und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.
»Hi, Lindsay«, sagte er.
78
Vor ein paar Monaten hatte ich mich in Mickeys Hände begeben, als ich der Polizeibrutalität und der widerrechtlichen Tötung beschuldigt wurde. Ich hatte mich bei meinen Aussagen vor Gericht auf seinen Rat verlassen, sogar bei der Wahl meines Outfits für den Zeugenstand und der Art, wie ich meine Antworten formulierte. Und er hatte mich nicht enttäuscht.
Wenn Mickey nicht gewesen wäre, wüsste ich nicht, was ich jetzt machen würde, aber jedenfalls würde ich nicht mehr bei der Polizei arbeiten - das war mir in diesem Moment bewusst.
Ich empfand eine Woge der Sympathie für diesen Mann, der sich damals so für mich eingesetzt hatte, aber innerlich baute ich einen Schutzschild auf gegen seinen gefährlichen Charme und konzentrierte mich auf die Bilder, die ich nicht mehr vergessen konnte - die Bilder von Alfred Brinkleys Opfern. Ich dachte an den kleinen Jungen, der im Krankenhaus gestorben war. An Claire, wie sie meine Hand umklammert hielt, als sie glaubte, sterben zu müssen, und mich nach ihrem Sohn fragte.
Und Shermans Mandant war an alldem schuld.
»Sergeant Boxer«, sagte Sherman, »es kommt selten vor, dass ein Mörder einen Polizeibeamten zu Hause aufsucht, um sich zu stellen, nicht wahr?«
»Ich würde sagen, ja.«
»Und Fred Brinkley wollte sich ausdrücklich Ihnen persönlich stellen, ist es nicht so?«
»Das sagte er mir.«
»Kannten Sie Mr. Brinkley?«
»Nein, ich kannte ihn nicht.«
»Und warum hat Mr. Brinkley Sie dann gebeten, ihn festzunehmen?«
»Er sagte mir, er habe mich im Fernsehen gesehen, als ich die Bevölkerung um Informationen über den Fährenmörder bat. Er sagte, er habe das so verstanden, dass er zu mir nach Hause kommen sollte.«
»Wie hat er herausgefunden, wo Sie wohnen?«
»Er sagte, er sei in die Bibliothek gegangen und habe einen Computer benutzt. Er habe meine Adresse über das Internet herausgefunden.«
»Sie haben ausgesagt, Sie hätten Mr. Brinkley entwaffnet. Sie haben ihm den Revolver weggenommen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Dieselbe Waffe, mit der er auf diese Menschen geschossen hatte?«
»Ja.«
»Und er hatte ein schriftliches Geständnis in der Tasche, als er bei Ihnen vor der Tür stand, nicht wahr?«
»Ja.«
»Also, damit das ganz klar ist«, sagte Mickey, »mein Mandant hörte Ihren Aufruf an die Bevölkerung im Fernsehen und interpretierte ihn als einen Appell an ihn persönlich. Er googelte Ihren Namen in der Bibliothek und klingelte bei Ihnen an der Tür, als ob Sie bei ihm eine Pizza bestellt hätten . Und er hatte immer noch die Schusswaffe dabei, mit der er vier Menschen getötet hatte.«
»Einspruch, Euer Ehren. Suggestivfrage«, warf Yuki ein.
»Ich lasse die Frage zu, aber kommen Sie zur Sache, Mr. Sherman.«
»Ja, Euer Ehren.« Mickey ging auf mich zu und fixierte mich mit einem eindringlichen »Du-kannst-mir-doch-vertrauen«-Blick aus seinen braunen Augen.
»Worauf ich hinauswill, Sergeant, ist Folgendes: Würden Sie nicht auch sagen, wenn ein Mörder die Mordwaffe bei sich behält und sie einer Beamtin des Morddezernats nach Hause bringt, dann ist das nicht bloß ungewöhnlich, sondern verrückt ?«
»Es ist ungewöhnlich, das gestehe ich Ihnen gerne zu.«
»Sergeant, haben Sie Mr. Brinkley gefragt, warum er diese Menschen erschossen hat?«
»Ja.«
»Und was hat er geantwortet?«
Ich hätte mich am liebsten in ein Loch verkrochen und mich geweigert, Mickey Shermans Frage zu beantworten, aber natürlich war das keine Alternative. »Er sagte, er habe es getan, weil Stimmen es ihm befohlen hätten.«
»Stimmen in seinem Kopf?«
»So habe ich seine Aussage interpretiert.«
Mickey lächelte mich an, als wollte er sagen: O ja, heute ist ein sehr guter Tag für die Verteidigung . »Das wäre alles von meiner Seite. Vielen Dank, Lindsay.«
79
Yuki saß im MacBain’s gegenüber von mir an einem Tisch in der Nähe der Tür. Sie wirkte mehr als nur besorgt.
Sie sah aus, als ob sie sich schreckliche Vorwürfe machte.
»Ich
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