Die 7 Geheimnisse Der Schildkroete
Hass.
Rantan kam dazu, als Meisterin Yuna gerade mit Kurma diskutierte. Yuna sagte gerade: »Es ist ja sehr edel von Euch, dass Ihr immer nur Güte zeigen wollt. Doch das geht ja nicht: Es ist unsere Pflicht, die Dummen und die Bösen auf den rechten Weg zu führen!« Plötzlich sah sie Rantan und flog erschreckt auf. »Kurma, gebt acht! Dort ist ein Skorpion. Rasch, zertretet ihn!« Rantan und Kurma blickten sich amüsiert an. »Ach Yuna! Wenn ich alle meine Schüler zerträte, wie sollte ich da lehren?« Peinlich berührt setzte sich Yuna wieder und räusperte sich. »Hm, nun ja. Die Dummen und die Bösen müssen wir belehren.« Kurma darauf: »Wer kann die Dummen und die Bösen belehren, wenn er sie nicht versteht?«
Wenn man Gewalt rechtfertigen will, braucht man zumindest eines: das Bewusstsein, dass die eigene Sicht die richtige ist und die des anderen die falsche. Einer der ersten Schritte zur Friedfertigkeit ist daher zu verstehen, dass es andere Meinungen, Ansichten, Blickwinkel gibt. »Betrachte immer alles aus mindestens zwei Perspektiven«. Wenn es gelingt, diese Regel im Alltag anzuwenden, wird fast immer die Idee, dass Gewalt eine sinnvolle Lösung sein könnte, in sich zusammenfallen.
Gibt es zwei Möglichkeiten, etwas zu sehen, kann kein Fanatismus entstehen. Und ohne verzweifeltes Anklammern an eine Ansicht gibt es keine Angst, die zur Aggression führt.
Aus Kurmas Übungen: Frosch und Adler
In dieser Übung geht es darum, zwei Perspektiven einzunehmen. Das müssen nicht unbedingt komplizierte philosophische oder weltanschauliche Perspektiven sein. Wenn Sie sich in einer Situation aufgeregt und hilflos fühlen, befinden Sie sich in der »Frosch-Perspektive«: Sie sind unten, die anderen oben, »über Ihnen«. Betrachten Sie nun dieselbe Situation noch einmal aus der »Adler-Perspektive«, von ganz weit oben. Sie werden feststellen, dass diese neue Sicht auf die Welt Ihre Gefühle verändert. Sie betrachten das Ganze distanziert, von einem übergeordneten Punkt.
Probieren Sie das doch einmal aus, wenn Sie beispielsweise mit der ungerechtfertigten Kritik eines Kollegen konfrontiert sind. Nehmen Sie zunächst wahr, wie Sie automatisch die »Frosch-Perspektive« einnehmen. Sie fühlen sich hilflos und werden wütend oder es kocht in Ihnen. Nehmen Sie dann bewusst die »Adler-Perspektive« ein. Sehen Sie sich und Ihren Kollegen wie aus großer Höhe. Das macht Sie nicht arrogant,sondern nur gelassen: Sie werden leichter Ruhe bewahren können, fühlen sich nicht »von oben herab« behandelt (Sie stehen ja darüber), und es ist Ihnen gleichzeitig möglich, die Argumente Ihres Kollegen unvoreingenommen wahrzunehmen.
Es ist sicher nicht immer einfach, eine fremde Perspektive einzunehmen. Seinen Aggressionen freien Lauf zu lassen, ist da schon viel leichter, denn die schwierige Suche nach Lösungen bleibt einem so erspart. Die Frage ist nur, ob auf diese Weise überhaupt Lösungen gefunden werden können.
Das beginnt nicht erst in der großen Politik, nicht einmal in der Tagespolitik, nicht einmal im Alltag eines Erwachsenen, sondern schon im Kleinen. Oder vielmehr bei den Kleinen: Eltern fällt es gegenüber ihren Kindern oft ausgesprochen schwer, friedfertig zu bleiben. Kaum etwas ist aber so wichtig.
Ob ein Kind schreit, tobt, nicht gehorcht, frech ist, etwas kaputt macht – immer noch ist die Antwort darauf nicht selten Gewalt, glücklicherweise nicht mehr so oft körperliche Gewalt (obwohl auch das wieder zunimmt). Aber jede Maßnahme, die die Würde des Kindes verletzt, die nicht lehrt, sondern zwingt oder, fast noch schlimmer, durch Gleichgültigkeit bestraft, verletzt die Seele des Kindes. Die einzige Lehre, die Kinder aus Gewalt ziehen, ist die, dass Gewalt berechtigt und »normal« ist.
Kurma spricht: »Du kannst keinem Vogel helfen, auf die Welt zu kommen, indem du mit einem Stein auf ein Ei schlägst.«
Wir haben in diesem Abschnitt überlegt, ob Gewalt manchmal sinnvoll sein kann. Manchmal mag es so scheinen, doch der Schein trügt, da Gewalt nur zerstört, aber nichts aufbaut. Da Aggression immer neue Aggression nach sich zieht, kann nur Friedfertigkeit die Lösung bringen. Friedfertigkeit ist aber nicht dasselbe wie Passivität. Lösungen zu finden mag sehr schwer sein – mit Gewalt eine Lösung zu suchen heißt jedoch, die Suche nach einer Lösung aufzugeben.
Rantan war froh, seine frühere Aggressivität überwunden zu haben. Doch immer wenn er von
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