Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
weiß ich nicht, wie ich in meiner Geschichte fortfahren soll – ein Bienenschwarm an Gedanken und kein Plan, wohin ich die Waben meiner Erinnerungen bauen soll und will. Was ich bisher erzählt habe, zielt auf die Katastrophe am Ende dieses Kapitels. Und was ich weiter und bis zum heutigen Tag erlebte, ist nähere oder fernere Folge derselben. Er könne mir bei diesem Teil nicht helfen, sagt Sebastian. Deshalb nicht, weil er selbst darin vorkomme – die Begründung ist vorgeschoben; ich verstehe ihn. Über die Lundins habe ich mit Sebastian nie gesprochen, vorher nicht, nachher nicht. Und sosehr ich mir wünsche, dass du mein Buch liest, Sebastian, von hier ab lass dieses Kapitel aus!
Beim Leser muss ich mich entschuldigen – wieder einmal entschuldigen –, sollte er auf den folgenden Seiten die Klarheit und Stringenz der vorausgegangenen Teile vermissen; für diese Tugenden zeichnet allein Sebastian verantwortlich; in selbstloser Freundschaft hat er Abschnitt für Abschnitt korrigiert und mit mir durchgesprochen und für eine unverantwortlich lange Zeit seine eigene Arbeit hintangestellt – als könnte die Niederschrift meines Lebens mein Leben heilen …
Das Schicksal der Familie Lundin ist so eng mit meiner Person verbunden, dass ich nicht widersprechen dürfte, wenn einer sagte, ich sei dieses Schicksal . Eine Familie, eine Familie, eine Familie – was ist das? Ich will von Kopfhängerei nichts wissen, wollte ich nie. Um mir selbst Mut zu machen, möchte ich, bevor ich mich wieder der Chronologie meiner Geschichte unterwerfe, in ein paar schnellen Sprüngen über die Jahre vorauseilen und skizzieren, was aus einigen von ihnen geworden ist – nachdem ich aus ihrem Leben getreten war. Die Stimmen der guten Welt, die ich bisweilen in mir höre, flüstern mir ein, das sei ich den Lundins schuldig.
Zunächst Leif – er enttäuschte seinen Vater nicht. Er blieb dem Geschäft erhalten. Nach der Matura studierte er in Zürich an der ETH Chemie, und prompt bot man ihm nach der Promotion eine führende Stelle in der Entwicklungsabteilung eines deutsch-schweizerischen Lebensmittelbetriebs an – dessen Aktienmehrheit sein Vater besaß. Leif wird beschrieben als ein Dandy mit einem blasierten Akzent, »ein Schakal in Armani und Christian Dior« (meine Informantin hatte eine Zeitlang in derselben Abteilung gearbeitet wie er). Er war nicht beliebt, wieder nicht, auch hier nicht, bemühte sich inzwischen aber nicht mehr darum. Mit Arroganz machte er wett, was ihm an Zuneigung mangelte. Er heiratete die Tochter eines Baseler Patriziers, zwei Buben kamen zur Welt, die Familie lebte erst in Basel, später in Köln.
Leif gründete sein eigenes Labor und brachte es innerhalb von vier Jahren auf zwanzig Angestellte, jeder ein hochqualifizierter Chemiker, Pharmazeut oder Biologe. Von Anfang an unterhielt er enge Kontakte zur Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt , in deren Auftrag er Experimente zur Herstellung von Astronautennahrung durchführte. Das Produkt sollte klein sein und wenig wiegen, in Wasser zu einem lockeren Teig aufquellen, aus genügend Fetten, Proteinen und Vitaminen bestehen, leicht verdaulich sein und besonders lecker schmecken, weil der Mensch in der Schwerelosigkeit wenig Appetit habe – auf jeden Fall aber müsse es die russische Kosmonautennahrung übertreffen. Leif war natürlich interessiert, dass seine Patente nicht nur in der Raumfahrt Verwendung fänden, sondern zum Beispiel auch bei der Behandlung von Patienten mit Essstörungen, bei Adipositas und Obesitas, aber auch als Diätalternative, wenn Männer und Frauen etwas für ihre Figur tun wollen.
Er war vierunddreißig, als er zum ersten Mal Afrika bereiste, Angola, Sambia, Malawi, Südafrika. Und Mosambik. Das Land befand sich im Bürgerkrieg, die Infrastruktur war zerstört, Hungersnot herrschte. Er kam als ein anderer Mensch zurück – seine eigenen Worte. (Ich weiß das von einem seiner ehemaligen Geschäftspartner, den ich irgendwann – nicht zufällig – kennen lernte und der keine Ahnung von mir und keine Meinung über mich hatte.) Nach weiteren Aufenthalten in Simbabwe und Sambia entschloss er sich, in einem dieser Staaten an der Grenze zu Mosambik eine Fabrik zur Erzeugung von künstlichen Lebensmitteln zu errichten. Weite Gebiete Mosambiks waren wegen der Mienen nicht betretbar, es würde lange dauern, die zerstörte Landwirtschaft wieder aufzubauen, bis dahin würden Hunderttausende Menschen
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