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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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zusammen mit den Wärtern mitten in der Nacht ansehen, weswegen ich am nächsten Tag im Gerichtssaal sehr müde war, oftmals gähnen musste und zwei-, dreimal einnickte; was mir in dem erwähnten Zeitungsartikel prompt als »teuflische Kaltherzigkeit« ausgelegt wurde.)
    Der Prozess hat nicht mich, aber meinen Anwalt Dr. Kurt Wyss ruiniert. Er war ein großer, kräftiger Mann gewesen, Anfang vierzig, ein wenig geckenhaft gekleidet, der übertrieben gepflegt roch und gegen eingebildete Mundfäule Pfefferminzdrops lutschte. Er schrieb mir einen langen Brief in die Strafanstalt, dreizehn mit Hand geschriebene Seiten; ich habe nicht die Geduld aufbringen können, ihn zu lesen. Nach meinem Fall war er nicht mehr als Strafverteidiger tätig. Irgendwann soll ihm sogar von der Anwaltskammer die Lizenz entzogen worden sein. Wegen etwas anderem aber. Hatte mit mir nichts zu tun. Der Mann hat nicht gut geendet.
     
    Es war Sommer, der unvergleichliche Sommer 1966! Nie hatte ich einen Sommer erlebt, in dem ein ähnlich aufregendes Wetter herrschte: ein mildes Wehen am Morgen, das eine berauschende Duftmischung in meine Zelle trug – frisches Brot vom Bäcker ein Stück weit oberhalb des Gefangenenhauses, nachtfeuchte Erde aus dem Hof, Tannenharz vom Wald unter dem Fürstenschloss, Kaffee aus dem Fenster des Aufenthaltsraumes der Wärter unter mir; bewegungslose, glühende Stunden mittags und nachmittags und am Abend Gewitter und Wolkenbrüche wie in den Tropen. Ich stellte mich auf den Stuhl und schaute zur Straße hinunter, wie der Regen vom Asphalt zurücksprang, sah den Schatten eines Gesichts in dem mit Spinnweb überzogenen Fenster des Hauses auf der anderen Seite. Wenn sich die Wolken ausgeregnet hatten, schien die Sonne vom Westen in meine Zelle hinein und über meine Pritsche und hinterließ ein goldenes Geblendetsein in meinen Augen. Der Tag ging hin, und die Berge rückten näher und wurden violett. In der Nacht lag ich auf meiner Pritsche und zählte die Blitze im Rechteck meines Himmels, und wenn der Donner einsetzte, als würde der Himmelsbaum im Stamm bersten, und mit dem Donner das Trommeln und Prasseln des Regens, durchwallten mich Freude und Lebenslust, und ich glaubte, nie seliger gewesen zu sein, und wusste, wenn das Gewitter vorbei sein würde und in der Ruhe der Nacht nur das Tschia, tschia! der Schleiereule ertönte, würde ich immer noch auf meiner Pritsche liegen, und nichts auf der Welt besäße die Macht, mich zu stören.
    Und das Schönste an diesem Sommer: Den Wärtern des Gefangenenhauses Vaduz wurde ein Fernsehapparat bewilligt, ein Schrankmöbel, das man mit zwei Seitwärtsrollläden verschließen konnte und auf dem ziemlich scharf drei Sender zu sehen waren – ein schweizerischer, ein österreichischer und ein deutscher; und nachdem ich der einzige Gefangene war, der länger als eine oder zwei Nächte hier untergebracht war, und außerdem ein »lässiger Hegel« sei, meinten die Wärter, es könne niemand etwas dagegen haben, wenn ich ab und zu mit ihnen fernsehe, zumal sie niemanden um Erlaubnis fragten. Boxkämpfe liebten wir besonders – Cassius Clay, der nun Muhammad Ali hieß, gegen Henry Cooper oder gegen Brian London, im September gegen Karl Mildenberger und im November gegen Cleveland Williams; oder die Tour de France, Gewinner: Lucien Aimar; aber auch Nachrichtensendungen haben wir uns angesehen, manche hintereinander in allen drei Sendern – Unruhen in China, Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg in Deutschland oder die Berichte über einen achtzehnjährigen Schüler aus Arizona, der fünf Frauen und ein Mädchen erschoss, allein weil er berühmt werden wollte.
    Höhepunkt des Sommers war die Fußballweltmeisterschaft und der Höhepunkt derselben das Endspiel England gegen Deutschland. An Spannung kaum auszuhalten, als Geoff Hurst in der 101. Minute das Tor zum 3:2 für England schoss, ein verlogenes Tor freilich, was von einer Minute auf die andere bewirkte, dass wir, die wir zuerst für England geschrien hatten, nun für Deutschland brüllten – für Franz Beckenbauer, Lothar Emmerich, Helmut Haller, Siegfried Held, Horst Dieter Höttges, Wolfgang Overath, Karl Heinz Schnellinger, Willi Schulz, Uwe Seeler, Hans Tilkowski und Wolfgang Weber; was aber nichts nützte, denn England gewann 4:2 und war somit Weltmeister. Mit verschwitzten Gesichtern saßen wir bis spät in die Nacht hinein im Aufenthaltsraum und diskutierten das Spiel und tranken Bier und rauchten filterlose

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