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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Zigaretten, spielten Schach, ich spielte um Zigaretten, und weil ich immer gewann, hatte ich immer genug davon. Oftmals, wenn ich in meine Zelle gebracht wurde, zwitscherten draußen die ersten Vögel, und ich atmete Alkohol und verbrannten Tabak in mein Kopfkissen.
    Das Schönste des Sommers 1966 , sagte ich, sei der Fernseher gewesen? Es gab etwas Schöneres! Irgendwann kam der Wärter, den ich Herr Andreas nannte, weil er es sich so wünschte, in meine Zelle und warf nachlässig ein Transistorkofferradio auf meine Pritsche. »Einem Schlaumeier abgefasst«, sagte er. »Wegen Ruhestörung. Gehört jetzt niemandem.« Dazu eine Hosentasche voll Batterien. Das Radio hätte über ein Kabel an einer Steckdose angeschlossen werden können, aber erstens sind Stromkabel im Gefängnis nicht erlaubt, zweitens gab es zumindest in den Zellen dieses Gefängnisses keine Steckdosen. »Dreh die Lautstärke nicht weiter als bis 2«, riet mir Herr Andreas. Wenn mein Prozess beginne, müsse ich ihn wieder zurückgeben. Er sagte ›der Radio‹. Herr Andreas mit dem hufeisenförmig nach unten gekrümmten Schnurrbart und den karikaturhaften Tränensäcken wäre auch gern Mitglied gewesen – in meinem Club.
    Es war eines der Marke Donauland, zweifarbig, rot und vanille, mit einem Tragegriff, zwei jeweils auf einen Dreiviertelmeter ausziehbaren Antennen, Druckknöpfen für UKW, KW, MW und LW, einem gezähnten Ein-aus- und Lautstärkeregler an der Seite und vorne einem großen Rad, um die Sender einzustellen – Beromünster, Luxemburg, Wien, Lisboa, RIAS Berlin, Warszawa, Beograd, Innsbruck II, Vatikan …
    Ich hörte ununterbrochen Radio; am Morgen, noch bevor ich die Augen öffnete, streckte ich den Arm aus und drehte das Rädchen nach unten, erfuhr aus den Sechsuhrnachrichten, was die Welt bewegte, und ließ mir anschließend von einem Mann namens Günther Lessiak, der die Morgenmusik zusammenstellte, einen erfolgreichen Tag wünschen.
    An den Abenden suchte ich nach Hörspielen oder einfacher Tanzmusik, in der Nacht lauschte ich den Morsesignalen und den fremdländischen Sprachen, die in Wellen von Gepfeife und Rauschen auftauchten, versanken und wieder auftauchten; oder staunte mit pochendem Herzen über rätselhafte, immer zweimal ausgesprochene Mitteilungen an rätselhafte Zuhörer: »Achtung, Hausfrau, der Wasserhahn tropft! Achtung, Hausfrau, der Wasserhahn tropft!« oder: »Die Liebesnächte in der Rudolf-Hilferding-Straße bleiben auf ewig unvergessen! Die Liebesnächte in der Rudolf-Hilferding-Straße bleiben auf ewig unvergessen!« oder: »Der Maus ist tot! Der Maus ist tot!«
    Oft saß ich auf meiner Pritsche, bis der Himmel hell wurde, und schrieb in mein Heft. Ich erzählte mir meinen Tag und wunderte mich dabei, dass es so viel zu beschreiben gab, obwohl doch gar nichts geschehen war. Ich hörte die Vögel am Morgen und fühlte mich in Einheit mit dem Herzen der Welt.
    Wenn Dr. Wyss mich in meiner Zelle besuchte, versteckte ich das Radio und mein Heft im hintersten Winkel meines Kastens und schob einen Stapel Anstaltsunterhosen davor.
     
    Ich habe mich inzwischen erkundigt, was ein Schelmenroman ist. Darin wird von einem Helden erzählt, der Schreckliches tut und Schreckliches erleidet, für ersteres nicht zur Verantwortung gezogen wird und an letzterem nicht zugrunde geht, weil eigentlich nicht sein Schicksal interessiert, sondern das seiner Zeit, womit alle Menschen gemeint sind – außer ihm. Ich möchte aber nicht für andere herhalten, das wirst du verstehen, Sebastian; und wenn ich nicht untergehen will, dann nicht, weil man mich noch als Exempel braucht.
     

7
     
    Ich passe schon lange auf eine Gelegenheit, Ihnen von dem Tierarzt weiterzuerzählen und von dessen Bemühungen, mein Freund zu werden. Sie erinnern sich? Nun scheint mir der Zeitpunkt günstig. Das Vorangegangene hat mich erschöpft, und ich darf mir über den Herbst und den Winter eine Pause gönnen – einen Urlaub von der Vergangenheit, den ich, mit Ihrer Erlaubnis, gern in unserer Gegenwart verbringen möchte, bevor ich dann im Frühling zurück ins Jahr 1967 zu meinem Prozess am Fürstlichen Landgericht in Vaduz springe, gerade rechtzeitig zum Plädoyer des Herrn Staatsanwalts. Günstig ist der Zeitpunkt, über den Tierarzt zu sprechen, auch insofern, als sich zweifach an das Vorangegangene anknüpfen lässt: Auch er drängt darauf, Mitglied in »meinem Club« zu werden, und auch ihm war Gott erschienen; und obwohl er, anders als ich, von IHM

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