Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
überleben werde, und überredete die Sanitäter vom Samariterbund, mich mit ins AKH zu nehmen.
»Ich habe ihrer Mutter versprochen, dass ich auf sie aufpasse«, sagte ich.
Vor dem Arzt im Krankenhaus stritt ich ab, so etwas gesagt zu haben. Die hätten mich falsch verstanden, sagte ich. Ich hätte die junge Frau auf der Straße gefunden, vor dem Arne-Carlsson-Park hätte ich sie gefunden und zu der Telefonzelle geschleppt. Ihr hätte ich versprochen, auf sie aufzupassen, ihr hätte ich es versprochen, nicht ihrer Mutter. »Ihre Mutter kenne ich nicht, woher soll ich ihre Mutter kennen?«
»Also sind Sie ihr Schutzengel«, sagte der Arzt, »das ist ein großes Glück für einen Menschen, wenn er einen Schutzengel hat.«
Er erlaubte mir, draußen zu warten, bis die Behandlung abgeschlossen sei, und erlaubte mir schließlich sogar, über Nacht an Jannas Bett zu sitzen.
Die Schwester brachte mir einen bequemen Stuhl und ein dickes Kopfpolster zum Unterlegen und eine Thermoskanne mit Tee und einen Teller mit ein paar Scheiben Sandkuchen. Wenn ich etwas Deftigeres wünsche, solle ich klingeln.
Janna hing am Tropf. Ich weiß nicht, was ihr injiziert wurde. Sie schlief. Irgendetwas Kreislaufstabilisierendes. Sie hatte den Kopf mir zugewandt und die Augen geschlossen. Sie war blass, aber nicht mehr totweiß. Ich hielt ihre Hand, manchmal strich sie mit dem Daumen über meine Haut, es war wohl mehr ein Reflex. Die Einstichstellen an ihrem Unterarm waren mit Jod bepinselt und verbunden, über den Einstich am Hals war ein Pflaster geklebt worden. Sie schnarchte leise. Ich hatte den Arzt gebeten, sie in ein Einzelzimmer zu legen, ich würde dafür aufkommen. Er hatte mich angesehen und genickt und war dabei sehr ernst gewesen. Für eine Nacht gehe das aufs Krankenhaus, hatte er geantwortet. Einem Schutzengel stehe das zu.
An der Kopfseite des Bettes brannte hinter einer Blende eine schwache Neonröhre, die warf einen Schimmer von Licht, und ich dache daran, wie ich meine Stiefel gekauft hatte, Stiefel aus spanischem Leder, die mein letztes Geld gekostet hatten, whiskyfarben, und nun war ich pleite. Die Stiefel hatten mich an Mexiko erinnert, als ob ich schon dort gewesen wäre, ich hatte meine Nase an das Leder gehalten und mir eingebildet, ich erinnere mich an den Ledergeruch, und nun sah ich das bleiche Mädchen im Bett liegen, und ich erzählte ihr, während sie schlief und leise schnarchte, wie wir beide in den weiten Horizont der Freiheit auswandern würden, wenn sie erst das Gift aus ihrem Körper ausgeschwitzt hätte, wie wir beide, sie die Tochter einer Ermordeten, ich der Mörder ihrer Mutter, ein bedingungsloses Leben führen würden, ein Leben, wie das Leben ist, ohne Sicherheit, ohne Plan, ohne Glück, ohne Uhr und pünktliches Frühstück, ausgestattet nur mit unserem Atem und der Sonne, die am Morgen aufgeht, am Tag wie ein weißes Loch brennt und am Abend unter den schartigen Rand der Erde sinkt.
»Ich trage für dich Sorge«, sagte ich.
Ihr Poncho passte zu meinen Stiefeln, und dann muss wohl mein Kopf aufs Bett gesunken sein. Ich träumte von Fledermäusen, die aus den Bäumen fielen und sich in unsere Hälse verbissen und Löcher in unsere Halsschlagadern schlugen, und nun wusste ich, dass ich träumte, denn so etwas traute ich der Wirklichkeit nicht zu. Als schwebte ich unter der Zimmerdecke, sah ich meinen Oberkörper vorgebeugt und meinen Kopf auf ihrem Bett liegen und wachte auf und sah sie wach liegen.
»Wer bist du?«, fragte sie.
»Ich heiße Joel Spazierer«, sagte ich.
»Kenn ich dich?«
»Nein, du kennst mich nicht. Und du bist nicht tot. Falls das deine nächste Frage ist.«
»Wie spät ist es? Habe ich keine Uhr?«
»An deinem Arm ist keine.«
»Dann hat mir jemand meine Uhr geklaut.«
»Ich schau zu, dass du sie wiederkriegst.«
»Wer bist du? Warum bist du hier?«
»Ich habe dich gefunden.«
»Ich habe Durst.«
Ich schenkte ihr Tee ein, und sie trank.
4
Am nächsten Tag gegen Mittag verließen Janna und ich das AKH. Der Arzt, der die Entlassung angeordnet hatte, riet ihr, sich mit einer Drogenberatungsstelle in Verbindung zu setzen, sie solle sich für eine Entziehungskur anmelden. Er gab ihr einen Zettel mit einigen Telefonnummern. In der Straßenbahn saß sie neben mir und sagte nichts, starrte vor sich hin, in sich versunken, das Gesicht viel zu weich für ein Menschengesicht, der Rücken krumm, die Schultern nach vorne gefallen. Ich fragte sie, wo sie wohne.
Weitere Kostenlose Bücher