Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Ein paar Tage vorher fuhren wir zu viert in Edoardos Jaguar (Mark X, Baujahr 1970 , weinrot, Stoffverdeck, Weißwandreifen mit rotem Streifen, Armaturenbrett in Vogelaugenholz) nach Sirmione am Gardasee, wo in der Ferienvilla der Pellicanos direkt am See das große Fest stattfinden sollte. Hundert Geschäftsleute waren angesagt. Das Fest hatte Tradition, der Geldadel Europas, versicherte mir Edoardo, werte eine Einladung oder keine Einladung als Indiz dafür, ob man immer noch dazugehörte oder noch nicht dazugehörte oder nicht mehr dazugehörte oder wieder dazugehörte. Edoardo wollte bei dieser Gelegenheit die Hochzeit seiner Tochter bekannt geben und zugleich Joel Spazierer als zukünftigen Chef von Caffè ristretto vorstellen.
Am späten Vormittag trafen die ersten Gäste ein. Das Haus hatte ein riesiges Foyer, von dem die Zimmer abgingen. Eine geschwungene Freitreppe führte hinauf in den ersten Stock, wo Sonjas und Edoardos Schlafzimmer war und Allegra und ich zwei Zimmer bewohnten. Ich hatte mir einen Smoking ausgeliehen, trug schwarze Lackschuhe, rauchte Davidoff in einer Zigarettenspitze; mein zukünftiger Schwiegervater hatte mir rubinrote Manschettenknöpfe geborgt, die zur rubinroten Fliege passten. Ich stand oben am Geländer und beobachtete die Paare, die vom Gastgeber und der Gastgeberin begrüßt wurden.
Und dann sah ich Leif und an seiner Seite Janna, sie in flachen Schuhen und einem schimmernd grünen Kleid mit langen Ärmeln, das Haar zu einem kecken Turm toupiert. Und mit einem Schlag wurde mir klar, dass Edoardo immer wieder von Leif Lundin gesprochen hatte, allerdings ohne seinen Namen zu nennen: von dem jungen dänischen Lebensmittelunternehmer, der eventuell bei Caffè ristretto einsteigen werde, was uns den nordeuropäischen Markt erschließen helfe; dass er mit diesem jungen Dänen, dessen Betriebe bereits in dritter Generation in Familienhand lägen, in Zürich und Frankfurt zusammengetroffen sei, dass sie ernste und wertvolle, zum Teil zu Herzen gehende Gespräche geführt hätten bis spät in die Nacht hinein und weit über das Geschäftliche hinaus; dass er in ihm endlich wieder einmal einen Mann getroffen habe, dem es in erster Linie nicht ums Geld, sondern um das Produkt gehe, der verstanden habe, dass ein Nahrungsmittel etwas Heiliges sei, dass ein zivilisierter Mensch Brot nicht wegwerfe und dass Kuchen und Kaffee Kulturgüter genannt werden dürften.
Janna würde mich erkennen, und Leif würde mich erkennen. Was Janna zu erzählen hätte, würde nicht aufwiegen, was Leif zu erzählen hätte. Ich ging zurück in mein Zimmer und zog mich um und nahm mein Transistorradio vom Nachttisch. Allegra war im Bad, ihre Eltern begrüßten unten die Gäste. Ich durchsuchte Allegras Zimmer nach Geld, fand ein paar Scheine, Schilling und Lira. Im Schlafzimmer ihrer Eltern fand ich im Kleiderschrank den Safe. Ich stellte Allegras Geburtstagsdaten ein und öffnete. Alles begegnet mir zweimal, dachte ich, kann sein, ich handhabe es beim zweiten Mal richtig, kann sein, ich handhabe es falsch. Ich konnte mir nicht denken, warum die Pellicanos in ihrem Ferienhaus so viel Geld aufbewahrten, zu viel jedenfalls, als dass sie Anzeige erstatten würden. Da waren englische Pfund, Lira natürlich, amerikanische Dollar, französische Francs, Schweizer Franken, Deutsche Mark, spanische Pesetas, Schwedenkronen, österreichische Schilling, russische Rubel – ich raffte die Scheine und Bündel an mich, stopfte sie in meine Hosentaschen und Hemdtaschen und Jackentaschen, schob sie mir unters Hemd. Ich schlich in die Küche, steckte einen Laib Brot, eine Flasche Wasser und mein Radio in einen Leinensack und verließ das Haus durch die Hintertür. Es war auch etwas Gutes getan, Janna meinen Anblick und meine Identität zu ersparen, dachte ich. Ich fuhr mit dem Bus nach Verona und von Verona mit dem Zug nach Wien. In der Toilette des Zuges wickelte ich das Geld in eine Zeitung und verstaute es unten im Leinensack, das Radio, das Brot und die Flasche Wasser legte ich darüber.
Am Semmering, hundert Kilometer vor Wien, stieg ich aus dem Zug. Weil ich Angst hatte.
In Leoben waren nämlich zwei Männer aufgetaucht, einer mit einer schwarzen Mütze auf dem Kopf, brutales Kinn, die Hände in den Taschen seiner Lederjacke, der andere langhaarig, eingedrückte Nase. Erst gingen sie gemeinsam durch den Zug, dann einzeln, der eine in diese Richtung, der andere in die entgegengesetzte. Mir schien, sie sahen sich
Weitere Kostenlose Bücher