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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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alle Reisenden an, nur mich nicht. Bald war ich der einzige in meinem Waggon. Signore Pellicano würde vielleicht nicht die Polizei verständigen, eben weil er, würde er den Diebstahl melden, hätte angeben müssen, woher das viele Geld stamme, und wohl auch hätte nachweisen müssen, dass er es versteuert habe; aber ein Mann wie er würde nicht einfach zusehen, wie ihm der Safe leergeräumt und die Tochter sitzengelassen wird. Ich wechselte den Waggon, setzte mich einer Frau gegenüber. Die beiden Männer kamen wieder, diesmal blieben sie vor mir stehen, sahen mich aber wieder nicht an, raunten sich etwas zu, ich konnte nicht bestimmen, in welcher Sprache, dann trennten sie sich. Die Frau blickte mich an und zuckte mit den Achseln. In Mürzzuschlag stieg sie aus. Und am Semmering stieg ich aus.
    Es war neblig und schon Nacht, der Zug hielt auf offener Strecke. Als der letzte Waggon an mir vorüberfuhr, freute ich mich auf das Gefühl, keine Angst zu haben, und auf die Stille, die folgen würde. Die Stille war gewaltiger, als ich gedacht hatte. Nicht weniger die Dunkelheit. Ich ging auf den Schwellen, den Leinensack über der Schulter, orientierte mich mit den Schuhen an den Geleisen. Immer wieder drehte ich mich um, damit ich nicht von einem Zug überrascht würde. Ich stolperte, ich strauchelte, ich fiel hin. Ich hatte keinen Hunger und keinen Durst. Müde war ich auch nicht. Ich versuchte es mit lautem Reden. Um mir die Angst vor dem Ungewohnten zu nehmen. Mir fiel nichts ein, was ich mir hätte erzählen wollen. Ich sah Lichter im Tal, ich ging an kleinen Bahnhöfen und Haltestellen vorbei, sah Fahrdienstleiter hinter Fensterscheiben in Lichtkegeln sitzen und lesen.
    Ich ging über Brücken und merkte erst, als ich sie hinter mir gelassen hatte, dass ich über Abgründe gegangen war. Ich ging durch Tunnel, und die Dunkelheit drinnen unterschied sich von der Dunkelheit draußen nur durch den Geruch. Ein Zug kam mir entgegen. Seine Lichter huschten über mich. Ein Güterzug kam mir entgegen, der war dunkel und laut. Ich hörte weit unten im Tal Autos fahren. Ich hörte das Käuzchen rufen. Ich hörte die Kohlmeisen piepsen – ziwi-ziwi, ziwi-ziwi –, es war Morgen.
    Die Füße taten mir weh vom Gehen auf dem groben Schotter. Auf einer Wiese standen Heuschober im Nebel. Beim ersten trat ich die Tür ein. Zur Hälfte war eine Holzdecke eingezogen. Oben lag Heu. Ich verkroch mich, trank den letzten Schluck, legte das Brot und das Geld unter meinen Kopf, drückte das Transistorradio an meine Brust und schlief ein.
    Ich wachte auf, weil ich Stimmen hörte. Ich spähte durch die Ritzen in der Bretterwand und sah zwei Männer über die Wiese heraufkommen. Erst dachte ich, es seien wieder die beiden aus dem Zug. Aber es waren alte Männer. Sie lachten und trugen Heugabeln über der Schulter. Ich stieg von meinem Hochstand herunter und lief davon. Ich achtete darauf, dass der Schober den Blick auf mich verstellte. Erst als ich im Wald war, hörte ich zu laufen auf. Ich hockte mich hinter einen Stamm und sah den Männern zu. Den Leinensack schob ich unter den Farn. Mit einer Hand suchte ich nach einem Stein. Ich fand einen Brocken, so groß wie mein Brot. Mein Hosenbein war aufgerissen. Das Schienbein schmerzte. Es war hell, wolkig und kalt. Ich trug Kordhosen, eine dünne Jacke und ein langärmeliges Hemd. Der Hunger zog mir den Magen zusammen. Die Männer gingen an dem Schober vorbei und am Wald entlang. Als ich sie nicht mehr sah, zog ich den Leinensack unter den Blättern hervor und stieg weiter durch das Unterholz.
    Es war schwer vorwärtszukommen. Vermooste Klötze und verfaulte Äste lagen übereinander, und das Gelände war steil. Ich musste aufpassen, dass ich nicht ausrutschte. Ich setzte mich unter eine Tanne, holte das Brot aus dem Sack und biss die Kruste auf. Ich zupfte das Weiche heraus und kaute es, bis es süß wurde. Ich kaute die Kruste, spuckte den Brei in meine Hand und schleckte ihn auf. Ich schaltete das Radio ein und suchte einen Sender. An der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay war mit einer gewaltigen Sprengung der Bau des größten Wasserkraftwerks der Welt begonnen worden, die Präsidenten der beiden Staaten hatten gleichzeitig auf einen Knopf gedrückt. In Rom wurde der neue Papst Johannes Paul II. in sein Amt eingeführt. Palästinenser, Israeli und Amerikaner verhandelten. Wieder überlegte ich, das Geld zu zählen, wieder hatte ich keine Nerven dazu. Die Hälfte des Brotes aß ich auf,

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