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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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vom Gesicht. Ich verlasse ihn nicht, auch wenn er Blut schwitzt. Weil ich endlich kapiert habe, worum es geht! Diese Verletzung, sagte Karl Wiktorowitsch Pauker, inzwischen ein Staatsanwalt in Robe und schwarzer Krawatte. Halt, halt! Die ist nicht zwingend tödlich. Zwingend tödlich hingegen sind das Erschießungskommando und der Friseur. Warum der Friseur? Siehst du, keiner fragt nach dem Erschießungskommando. Bleibt bei mir, sagte ich, verlasst mich nicht. Ich bleibe bei dir, sagte der Marder. Un ami, c’est quelqu’un qui sait tout de toi, et qui t’aime quand même. Ich auch, sagte der Kater. Ich auch, sagte das Rotkehlchen. Schön wäre es, wenn du mit uns teilen wolltest, sagte der Marder, ich meine das Geld. Ich weiß gar nicht, wie viel es ist, antwortete ich, ich habe nicht die Nerven gehabt, es zu zählen. Ach, ihr Tiere von der Boltzmanngasse, sagte ich, schaut zu, dass ihr selber davonkommt! Lauft, lauft! Lauft, was eure Sohlen hergeben!
     
    Ich hatte Fieber. Mein Bein war geschwollen und glühte. Mir war kalt. Es regnete. Ich stieg aus der Höhle, schüttelte Laub und Zweiglein ab und trottete durch den Wald. Den Sack mit dem Radio und dem Geld presste ich an mich. Ich erreichte einen Weg, auf dem ging ich talwärts und war wieder beim Schienenstrang. Jenseits davon dehnte sich ein Tal, bis sich die Sicht im Nebel verwischte. Weit entfernt am Gegenhang stand ein prächtiges Gebäude im Wald. Wie ein Sanatorium sah es aus. Wie ein Grandhotel in alten Filmen. Ich ging auf den Schienen, bis ich eine Station erreichte. Hier war niemand, kein Beamter, kein Fahrgast. Ich nahm den Weg, der ins Tal führte und weiter am Gegenhang hinauf zu dem prächtigen Gebäude, es schien im Nebel zu schweben.
    Ich war so geschwächt, dass mich schon das Atmen Mühe kostete. Meine Kleider waren durchnässt, ich klapperte mit den Zähnen und zitterte vor Kälte. Ich wusste, was man zu einem wie mir hier sagen würde. Ich schlich mich um das Haus herum. Niemand war zu sehen. Es war wohl sehr früh noch, ich hatte das Gefühl für Zeit verloren. Aus den Schornsteinen stieg aber schon Rauch auf. Daran wollte ich teilhaben. Ich schlug mit dem Ellbogen die Scheibe eines Kellerfensters ein, klappte den Rahmen nach innen, stieg durch die schmale Öffnung und zog den Leinensack nach.
    Ich landete im Paradies, im Grandhotel Panhans am Semmering.
    Hier war es warm. Hier gab es zu essen. Hier fand ich Stapel leerer Kartoffelsäcke, auf die ich mich legen, mit denen ich mich zudecken konnte. Hier fand ich ein verlorenes, fensterloses Abteil, nicht viel länger als ich groß, nicht viel breiter als ich breit. Der Eingang war wie der Eingang zu einer Hundehütte. Irgendwann war hier Kohle gelagert worden. Inzwischen hatte die Direktion das Haus auf Ölheizung umgestellt. Ich musste mich an den Tanks vorbeizwängen, um zu meinem Loch zu gelangen.
    Ich erkundete die Kellerräume. In einem wurden Äpfel, Kartoffeln und Dörrobst gelagert, auf mehreren Regalen stand Eingewecktes – Essiggurken, Paradeiser, Kürbisgemüse, Oliven in Öl und viel mehr. In einem anderen Raum hingen Würste und geräucherte Schinken von der Decke und lagerten Käseräder auf Tischen. Der Weinkeller erstreckte sich gar über drei Gewölbe. Im Bierkeller waren Kisten und Fässer gestapelt. Auch ein Regal mit Schnäpsen gab es hier. Auch einen Wasserhahn fand ich.
    Ich reinigte die Wunde an meinem Bein, kratzte den Dreck und den Eiter mit der Scherbe einer Schnapsflasche ab, bis das reine Blut floss, und goss Williamsbirne darüber. Die Scherbe behielt ich mir als Messer. Ich hängte meine Kleider über die Heizungsrohre. Ich würde nicht mehr frieren müssen. Ich breitete in meiner Höhle Kartoffelsäcke aus, umwickelte mein Radio und mein Geld mit Kartoffelsäcken, damit es mir als Kopfkissen diente, und deckte mich mit Kartoffelsäcken zu. Morgen, dachte ich, morgen werde ich mein Geld zählen. Ich hatte viel Zeit. Aber wozu brauchte ich Geld? Im Dämmer des heranrollenden Schlafes beschloss ich, bis an mein Lebensende hier zu bleiben.
    Unterdessen legte im Iran ein Generalstreik gegen Schah Reza Pahlavi die gesamte Erdölindustrie des Landes lahm; begingen im Dschungel von Guyana 921 Mitglieder der Sekte Tempel des Volkes unter Anleitung ihres Führers Jim Jones Selbstmord; beschloss die EG-Gipfelkonferenz in Brüssel ein Europäisches Währungssystem; wurde an den ägyptischen Staatspräsidenten Muhammad Anwar as Sadat und an den israelischen

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