Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
hätten. Der Verkäufer blickte mich mit halb herabgelassenen Augenlidern an, griff in ein Regal und übergab mir Ernst Thälmann. Ein Beitrag zu einem politischen Lebensbild von Willi Bredel, erschienen 1948 im Dietz Verlag in Berlin. Es kostete 56 Schilling.
    Es schneite. Ich trug einen Mantel mit Schaffellfutter und Stiefel mit Schaffellfutter. Auf meinem kurzhaarigen Kopf hatte ich eine Mütze, die Hände steckten in gefütterten Handschuhen. Mir fehlte es an nichts. Ich frühstückte im Café Landtmann : Omelett mit allem, Würstchen mit Senf und Gulaschsaft, Lachs mit Kren, ein Rollmops, Schnittlauchbrot, zwei Semmeln, rote Marmelade, gelbe Marmelade, Honig, eine Kanne Tee und eine Kanne Kaffee, ein Glas Grapefruitsaft und einen Apfelstrudel.
    Ich bezahlte mit D-Mark. In der Mariahilferstraße kannte ich ein Fotogeschäft, vor dem ein Automat stand. Ich schoss vierundzwanzig Automatenfotos. Auf allen hatte ich den Kopf ein wenig nach hinten gelegt, die Augen waren schmale Schlitze, ein melancholisch zartes Leid formte meinen Mund zu einem Bogen.
    Gegen Mittag ging ich zurück ins Hotel und machte mich an die Arbeit.
     
    Ernst Koch war am 2. September 1952 in Tulln an der Donau geboren. Von Beruf war er Theologe . Sein Wohnort war Wien . Sein Pass hatte die Nummer D 0.180.958 . – Was ich hier kursiv schreibe, war von einem Beamten mit Schreibmaschine in den Pass eingetragen worden.
    Wie es mir Major Hajós beigebracht hatte, breitete ich zuerst die Dinge auf dem Bett aus, die ich in dem Papiergeschäft gekauft hatte, die Lupe, die Taschenlampe und die Fotos. Vorsichtig bog ich die zwei hohlen Nieten auf, mit denen das Foto von Ernst Koch im Pass befestigt war. Die Nieten steckte ich in meine Brusttasche. Ich legte das Foto über meines und schnitt meines zurecht. Ich tat, wie es mir Major Hajós vorgeführt hatte. Ich malte und presste mit dem Ende einer Büroklammer die Stempel auf mein Bild und befestigte es im Pass.
    Nun druckte ich mit dem Schreibmaschinenfarbband einen zweiten Vornamen hinter Ernst – nämlich: Thälmann . Dazwischen setzte ich einen Bindestrich. Der schien mir wichtig. Für das T verwendete ich das T aus Tulln als Vorlage, für das h das h aus Koch , für das ä das a aus an – die zwei Punkte malte ich freihändig –, für das l das l aus Tulln, das m führte ich aus dem n aus Tulln fort, das a, wie bekannt, die beiden n dito.
    Ich hieß nun: Ernst-Thälmann Koch. Schließlich plazierte ich vor Koch das große D aus der Passnummer und das kleine r aus Ernst und dahinter einen Punkt. Und war somit Akademiker.
    Die Österreichisch-Ungarische Nordpol-Expedition hatte ich ausgewählt, weil der Band den stärksten Buchdeckel von allen Büchern hatte, die in dem Antiquariat auflagen. Ich löste vorsichtig mit dem Skalpell das Blatt, das innen an den Buchdeckel geklebt war. Ich legte meinen Pass auf den Buchdeckel und zeichnete seine Konturen nach. Mit dem Skalpell schnitt und schabte ich eine Vertiefung heraus, gerade so viel, dass der Pass darin Platz hatte und bündig war mit dem Rand. Dort sollte Joel Spazierer auf andere Zeiten warten. Ich legte das Blatt über den Pass und verklebte es an den Rändern. Meine Geburtsurkunde und meinen Staatsbürgerschaftsnachweis versteckte ich auf die gleiche Weise im hinteren Buchdeckel. Das Buch packte ich in meinen Reisekoffer.
    In der Nacht trank ich Whisky, setzte mich aufs Bett und zählte mein Geld. Ich rief bei der Rezeption an und fragte, für wie lange ich ein Päckchen im Safe des Hotels deponieren könne. Für alle Zeiten, war die Antwort, wie ich sie in diesem Hotel auch erwartet hatte. Ich behielt mir 5000 Schilling, 5000 D-Mark und 5000 amerikanische Dollar, den Rest des Geldes wickelte ich ein zu einem Paket, schrieb meinen alten Namen darauf und brachte ihn nach unten. Der Direktor des Hotels – Dipl.-Ing. Gerold Staudacher – bestätigte mir schriftlich den Erhalt und legte das Paket vor meinen Augen in den Safe des Hotels, und zwar in ein Extrafach.
     
    Am nächsten Tag stieg ich in den Zug nach Berlin. Während der Fahrt las ich die Biographie des berühmtesten und beliebtesten deutschen Kommunisten aller Zeiten und büffelte mir zurecht, was ich glaubte, brauchen zu können. Vor der deutsch-deutschen Grenze warf ich das Buch zum Fenster hinaus. Ich bat die Grenzbeamtin der Deutschen Demokratischen Republik um politisches Asyl. Sie starrte auf meinen Pass und fragte, ob ich tatsächlich mit Vornamen Ernst-Thälmann

Weitere Kostenlose Bücher