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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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meinen Mund heran, dass er aufheulte, und flüsterte in seine Muschel hinein: »And you: No more word, until we’re out of sight, or else I will not only rip off your ear but tear your heart out as well.« In Bocoyna stiegen Janna und ich aus dem Bus. Hier gab es aber keinen Arzt. Zu Fuß gingen wir durch den Schnee nach Vista del Sol, einem Vorort von Creel, das waren zehn Kilometer. Der Arzt dort ließ uns nicht über die Schwelle seiner Ordination. Draußen auf der Straße sagte Janna – vor der Tür der Arztes sagte sie es, drei Schritte von mir entfernt, eingehüllt in Schneeflocken, die dicht und leise und gleichmäßig vom Himmel fielen –, sie wolle nun nicht mehr leben. Ich lud mir unsere Rucksäcke auf, die waren nicht schwer, alle Kleider hatten wir angezogen. Man hatte uns gewarnt, im November bereits könne es in der Sierra zu drastischen Temperaturstürzen, sogar zu Schneestürmen kommen. Wir stiegen hinauf in die Berge.
    Du glaubst, ich sei ein Fall höchstrangiger Unerlöstheit. Das glaubst du, Sebastian, ja. Ein Philosoph – ich weiß nicht mehr seinen Namen, ich habe in deiner Bibliothek ein Buch aus dem Regal genommen –, der sagt: Die Verderbtheit unserer Natur werde von der Scham gefangen gehalten und durch ein böses Beispiel in die Freiheit gesetzt. »Dieser da«, hat der Staatsanwalt ausgerufen und dabei mit weit ausgestrecktem Arm auf mich gezeigt, »eignet sich nicht als Präzedenzfall .« Etwas Vergleichbares wie mich hätte es nie gegeben, gebe es nicht und werde es nicht geben; die Menschheit wäre gut beraten, sich nicht an mich zu erinnern. Das war sicher übertrieben und muss mit seiner Erregung entschuldigt werden. Du warst im Saal gesessen, und ich nehme an, du hast wie ich diesen Begriff damals zum ersten Mal gehört.
    Als ich Janna begraben wollte, unterhalb eines Felsen, den die Tarahumaras La Cabeza en el Cielo nennen, da stand eine Weile der Gott neben unseren Rucksäcken und sah mir zu, wie ich mit den bloßen Händen und einem steinernen Faustkeil und einem Stock, den ich mir von einem Ast gebrochen hatte, die Grube aushob; was mich verzweifeln ließ, weil der Boden so steinig war und der Schnee sich mit Regen mischte und ich nass war bis auf die Haut und schmutzig war wie ein Tier, das er selbst aus Erde geknetet hatte. Er bückte sich und wollte die Mütze heben, die ich über Jannas Gesicht und Ohren gezogen hatte. Ich sagte, nein, mir wäre es lieber, wenn er das nicht tun würde.
    »No hagas eso! Tun Sie das bitte nicht!«, sagte ich.
    Er sagte, es wäre angemessener, wenn Erde und Steine ihr Gesicht berührten. Nicht etwas, das Menschen gemacht haben. Staub zu Staub.
    Ich sagte, gut, dann aber wolle ich ihr die Mütze abnehmen, ich und niemand anderer.
    Er sagte, nun sei doch alles gut, alles sei mir verziehen.
    »Was denn?«, fragte ich ihn. »Was ist mir verziehen? Wer hat mir verziehen? ¿Me has perdonado?«
    Da war er auch schon verschwunden.

ZEHNTES KAPITEL
     
    … welches an das vorletzte, nämlich achte Kapitel anschließt, und zwar weitgehend wörtlich an dessen Schluss; was es dem Leser erleichtern soll, noch einmal in der Zeit zu springen, diesmal zurück – in eine Zeit, die es nicht mehr gibt, in ein Land, das es nicht mehr gibt, in Empfindungen, die es nicht mehr gibt, in eine Abgeschiedenheit, die dem Meister Eckhart, dem Prediger solcher Verfasstheit, aber nicht gefallen hätte, denke ich …
     

1
     
    Die Grenzbeamtin starrte auf meinen Pass und fragte, ob ich tatsächlich mit Vornamen Ernst-Thälmann heiße.
    Ich sagte: »Gewiss, Ernst-Thälmann, wie der große Arbeiterführer. Er war mein Großvater. Ich bitte um Asyl in der Deutschen Demokratischen Republik.«
    »Wieso Asyl?«, antwortete sie – nach einer sehr langen, sehr stillen Pause. »Wollen Sie nicht einfach so reinkommen, Herr Dr. Koch?«
    Das fand ich auffallend freundlich.
     
    Am 20. Januar 1979 , einem kalten, sonnigen Sonnabend, nachmittags gegen vier, betrat ich also die Deutsche Demokratische Republik. Ich trug einen teuren kakaobraunen Anzug, dreiteilig, ein weißes Hemd, eine fröhliche Krawatte mit verschlungenem Blumenmuster, in dem Blau dominierte, bequeme knöchelhohe, gefütterte Wildlederschuhe, einen Kamelhaarmantel, lederne Fingerhandschuhe und einen dunkelblauen Hut mit hellem Band. Ich glaube, ich sah gut aus. Ich hätte ein Geschäftsmann sein können oder ein Dirigent. Im Spiegelbild des Zugfensters war mir mein bartloser Kopf mit den kurzen Haaren fremd gewesen,

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