Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
allein bleiben würde. Aber eben ihre Heirat hätte den Verlust von hundert Pfund pro Jahr bedeutet. Was unternimmt der Stiefvater also, um das zu verhindern? Er schlägt den nächstliegenden Weg ein, hält sie im Hause und verbietet ihr die Gesellschaft von Gleichaltrigen. Doch bald fand er heraus, daß dies keine Lösung für immer war. Sie wurde störrisch, bestand auf ihren Rechten und verkündete schließlich die feste Absicht, auf einen bestimmten Ball zu gehen. Und was tut ihr schlauer Stiefvater dann? Er faßt eine Idee, die eher dem Kopf als dem Herzen entspringt. Mit stillschweigender Duldung und Hilfe seiner Frau verkleidete er sich, verbarg die scharfen Augen hinter gefärbten Gläsern, senkte seine klare Stimme zu einem schmeichelnden Säuseln, maskierte das Gesicht mit Schnurrbart und buschigen Koteletten und erschien, da er sich zusätzlich sicher fühlen konnte, weil die Tochter kurzsichtig war, als Mr. Hosmer Angel und hielt die Liebhaber fern, indem er selber Liebe mimte.«
»Anfangs war es nur Scherz«, stöhnte unser Besucher. »Wir hätten nie gedacht, daß es sie so fortreißen würde.«
»Das glaube ich Ihnen. Aber wie dem auch sei, die junge Dame wurde heftig fortgerissen; und da sie wußte, daß ihr Stiefvater in Frankreich war, stieg in ihr der Verdacht auf Betrug auch nicht für eine Sekunde auf. Die Aufmerksamkeit des Herrn schmeichelte ihr, und der Effekt wurde durch die lauthals verkündete Bewunderung der Mutter noch verstärkt» Dann begann Mr. Angel vorzusprechen, denn es lag auf der Hand, daß die Angelegenheit, sollte ein richtiges Resultat heraus kommen, soweit wie möglich vorangetrieben werden mußte. Man traf sich, und eine Verlobung fand statt, die endgültig absichern sollte, daß die Zuneigung des Mädchens nicht doch noch jemand anderem zufiel. Aber diesen Betrug konnte man nicht für immer aufrechterhalten. Die vorgeblichen Reisen nach Frankreich waren ziemlich beschwerlich. Es blieb nur, die Sache auf eine so dramatische Weise zu Ende zu bringen, daß ein dauernder Eindruck im Gedächtnis des Mädchens blieb, der sie für geraume Zeit hinderte, einen anderen Freier anzusehen. Deshalb diese Treueschwüre auf die Bibel, deshalb die Anspielungen, daß sich möglicherweise am Hochzeitsmorgens etwas ereignen werde. James Windibank wollte Miss Sutherland so sehr an Hosmer Angel binden und sie über sein Schicksal so sehr im Ungewissen lassen, daß sie in den nächsten zehn Jahren unter keinen Umständen einen Mann erhören würde. Bis zur Kirchentür lockte er sie, und dann, da er nicht weitergehen konnte, verschwand er bequem mit dem alten Trick, stieg zur einen Tür in die Kutsche hinein und zur anderen wieder hinaus. Ich denke, das war der Verlauf der Dinge, Mr. Windibank!«
Unser Besucher hatte während Holmes’ Erzählung etwas von seiner Sicherheit wiedergewonnen und erhob sich nun, ein kaltes Grinsen im bleichen Gesicht. »Es mag so gewesen sein oder auch nicht, Mr. Holmes«, sagte er. »Aber wenn Sie so klug sind, sollten Sie auch klug genug sein, einzusehen, daß jetzt Sie das Gesetz brechen, nicht ich. Was ich getan habe, war von vornherein nicht strafbar, aber Sie begehen etwas Strafbares, solange Sie die Tür verschlossen halten. Das ist Freiheitsberaubung und Nötigung.«
»Das Gesetz kann Sie, wie Sie sagen, nicht belangen«, sagte Holmes, drehte den Schlüssel und stieß die Tür weit auf. »Aber nie gab es einen Mann, der Strafe so verdient hat wie Sie. Besäße die junge Dame einen Bruder oder einen Freund, der sollte Sie auspeitschen. Bei Gott«, fuhr er aufbrausend fort, als er das widerwärtige Grinsen des Mannes sah, »es gehört nicht zu meinen Pflichten gegenüber Klienten, aber ich habe hier eine Jagdpeitsche, und da denke ich, ich werde selbst…«
Mit zwei schnellen Schritten war er bei der Peitsche, doch bevor er sie packen konnte, war wildes Fußtrappeln auf der Treppe zu hören, die schwere Haustür schlug zu, und vom Fenster aus konnten wir sehen, wie Mr. James Windibank in höchster Geschwindigkeit die Straße hinunterrannte.
»Ein kaltblütiger Schurke!« sagte Holmes lachend, als er wieder in seinem Sessel lümmelte. »Der Bursche wird von Verbrechen zu Verbrechen steigen, bis er etwas sehr Schlimmes tut und am Galgen endet. Der Fall war in gewisser Beziehung nicht ohne Interesse.«
»Ich kann Ihre Schlußfolgerungen nicht in allen Schritten nachvollziehen«, bemerkte ich.
»Nun, es lag natürlich von
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