Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
den Fehler begangen, Boone nicht sofort zu verhaften, und so war es ihm für wenige Minuten möglich, sich mit dem Laskar, seinem Freund, auszutauschen; aber dieser Fehler wurde sofort gutgemacht: Man nahm ihn fest und durchsuchte ihn, fand aber bei ihm nichts, das ihn hätte belasten können. Allerdings waren auf seiner rechten Manschette einige Blutspritzer; aber er zeigte seinen Ringfinger, der neben dem Nagel einen Schnitt aufwies, und erklärte, das Blut komme daher, und fügte hinzu, er hätte kurz zu vor am Fenster gestanden, und die dort festgestellten Spritzer stammten zweifellos auch aus seiner Wunde. Er bestritt energisch, Mr. Neville St. Clair jemals gesehen zu haben, und schwor, daß die fremden Kleider in dem Zimmer für ihn genauso ein Rätsel seien wie für die Polizei. Zu Mrs. St. Clairs Aussage, sie habe ihren Mann an dem Fenster gesehen, erklärte er, sie müsse entweder verrückt gewesen sein oder geträumt haben. Er protestierte laut, als er zur Polizeistation gebracht wurde. Der Inspektor blieb in dem Gebäude, denn er hoffte, die Ebbe würde eine neue Spur zutage fördern.
Und tatsächlich förderte sie etwas zutage, wenn auch nicht das, was man befürchtet hatte. Auf der Schlammbank lag, nachdem sich das Wasser verlaufen hatte, der Rock von Neville St. Clair, nicht er selber. Und was, glauben Sie, fand man in den Taschen?«
»Ich kann es mir nicht vorstellen.«
»Ja, ich glaube, das können Sie wirklich nicht. Alle Taschen waren vollgestopft mit Pennies und Halfpennies – vierhunderteinundzwanzig Pennies und zweihundertsiebzig Halfpennies. Kein Wunder, daß die Ebbe den Rock nicht davongetragen hat. Aber ein menschlicher Körper ist ein ander Ding. Zwischen der Werft und dem Haus gibt es einen wilden Strudel. Während der schwere Rock hängenblieb, mag der entkleidete Leichnam in den Fluß hineingezogen worden sein.«
»Sagten Sie nicht, daß alle anderen Kleidungsstücke im Zimmer gefunden wurden? Sollte die Leiche nur mit einem Rock bekleidet gewesen sein?«
»Nein, Sir, aber diesen Tatsachen muß man mit aller Vorsicht begegnen. Nehmen wir an, Boone hat Neville St. Clair aus dem Fenster geworfen, und keines Menschen Auge hat die Tat gesehen. Was würde er als nächstes gemacht haben? Natürlich wäre ihm sofort eingefallen, daß er die verräterischen Kleidungsstücke loswerden müsse. Er hätte also den Rock gepackt, und in dem Moment, da er ihn aus dem Fenster werfen wollte, ging ihm auf, daß der schwimmen und nicht untergehen würde. Ihm blieb wenig Zeit, denn er hörte das Getümmel an der Treppe, als die Frau versuchte, sich den Weg nach oben zu bahnen, und vielleicht hörte er dann auch von seinem Kumpan, dem Laskar, daß die Polizei in der Straße eingetroffen sei. Er durfte keine Sekunde verlieren. Also stürzte er zu irgendeiner verborgenen Schatzkiste, in der er die Früchte seiner Bettelei hortete, und stopfte alle Münzen, die er zu fassen bekam, in die Taschen, weil er sichergehen wollte, daß der Rock sank. Er warf den Rock hinaus und hätte mit den anderen Sachen dasselbe getan; aber da hörte er die Schritte heranstürmen, und ihm blieb gerade noch Zeit, das Fenster zu schließen, ehe die Polizei erschien.«
»Möglicherweise war es so.«
»Gut, nehmen wir das als Arbeitshypothese mangels einer besseren an. Boone wurde, wie ich Ihnen bereits sagte, festgenommen und zur Polizeistation gebracht; doch es lag nichts gegen ihn vor. Seit Jahren war er als berufsmäßiger Bettler bekannt, sein Leben schien aber ruhig und unschuldig verlaufen zu sein. Das ist der gegenwärtige Stand der Dinge, und es bleiben die Fragen: Was hatte Neville St. Clair in der Opiumhöhle zu schaffen, was ist ihm dort zugestoßen, wo befindet er sich jetzt, und was hat Hugh Boone mit seinem Verschwinden zu tun? Alles ist weiter denn je von einer Antwort entfernt. Ich gestehe, ich kann mich an keinen Fall aus unserer Praxis erinnern, der auf den ersten Blick derart einfach aussah und doch so viele Schwierigkeiten darbot.«
Während Holmes diese sonderbare Folge von Ereignissen vortrug, hatten wir die Ausläufer der großen Stadt durchjagt und auch die letzten verstreut liegenden Häuser hinter uns gelassen. Nun rasselte der Wagen zwischen Hecken dahin. Er war mit seinem Bericht gerade zu Ende gekommen, als wir zwei langgezogene Dörfer passierten, wo noch ein paar Lichter in den Fenstern glommen.
»Wir sind am Rande von Lee«, sagte mein Freund. »Wir haben in
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