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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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am Leben waren. Sie sahen nicht so widerlich aus wie die Erwachsenen, ein bisschen wie ausgeleierte weiße Plüschäffchen. Sie hingen schlaff in den Armen ihrer Mütter, konnten die Köpfe nicht heben und Arme und Beine nicht bewegen, hielten die Augen geschlossen und atmeten kaum.
    Dil Bahadur musste schlucken, als er sah, wie liebevoll diese schauerlichen Yetimütter mit ihren Kindern umgingen. Sie wiegten die Kleinen in den Armen, schnüffelten an ihnen und leckten ihnen das Fell, legten sie sich an die Brust, um sie zu stillen, und schrien ängstlich auf, wenn sie sich nicht rührten.
    »Das ist so traurig, Meister. Sie sterben«, sagte der Prinz.
    »Das Leben ist voller Leid. Unsere Aufgabe ist es, das Leid zu mindern, Dil Bahadur«, antwortete Tensing.
    Hier drinnen war das Licht so trüb, und es stank so unerträglich, dass der Lama schließlich alle bat, wieder mit ihm ins Freie zu gehen. Vor dem Höhleneingang versammelte sich die Horde erneut. Grr-ympr tanzte eine Weile um die kranken Kinder herum, rasselte mit ihren Ketten aus Knochen und Zähnen und stieß dazu markerschütternde Schreie aus. Die anderen Yetis begleiteten ihr Gekreisch mit einem wimmernden Singsang.
    Ohne auf dieses misstönende Wehklagen zu achten, beugte sich Tensing zu den Kleinen hinunter. Dil Bahadur sah an seinem Gesichtsausdruck, dass er sich auf seine Heilkräfte konzentrierte. Der Lama hob den kleinsten der Säuglinge hoch, der bequem auf seiner Handfläche Platz fand, und besah ihn sich aufmerksam. Dannwandte er sich unter beschwichtigenden Gebärden an die Mutter und untersuchte einige Tropfen ihrer Milch.
    »Was ist mit dem Kleinen?«, fragte der Prinz.
    »Möglicherweise verhungert es«, sagte Tensing.
    »Es verhungert? Es hat doch die Milch!«
    Tensing zeigte sie ihm: Sie war ganz dünnflüssig und gelb. Jetzt winkte der Lama die Kämpfer zu sich, die nicht kommen wollten, bis Grr-ympr einen Befehl knurrte, und auch die untersuchte er, wobei er sich besonders eingehend die violetten Zungen ansah. Er stellte fest, dass nur die Zunge der alten Grr-ympr nicht verfärbt war. Ihr Mund war ein stinkendes, schwarzes Loch, nicht sehr einladend, seine Nase dort hineinzustecken, aber Tensing war Kummer gewöhnt.
    »Die Yetis sind allesamt unterernährt, außer Grr-ympr, der nur ihr Alter zu schaffen macht. Sie ist bestimmt an die hundert Jahre alt«, sagte der Lama, an seinen Schüler gewandt.
    »Was kann sich im Tal denn verändert haben, dass sie nicht mehr genug zu essen finden?«
    »Vielleicht gibt es ja Nahrung genug, und ihr Körper kann sie nur nicht richtig verwerten, weil sie so krank sind. Die Säuglinge haben nur die Muttermilch, aber die macht sie nicht satt, weil sie wie Wasser ist, deshalb sterben sie nach wenigen Wochen oder Monaten. Die Erwachsenen sind widerstandsfähiger, sie essen Fleisch und Pflanzen, aber etwas schwächt sie.«
    »Und deshalb werden sie auch nicht mehr so groß wie früher und sterben eher«, spann Dil Bahadur den Gedanken weiter.
    »Vielleicht.«
    Der Prinz schielte gen Himmel. Dieses nebelhafte vielleicht seines Meisters machte ihn manchmal ganz kribbelig.
    »Es kann erst vor ungefähr zwei Generationen angefangen haben«, versuchte er es noch einmal. »Grr-ympr erinnert sich doch noch daran, dass alle Yetis einmal so groß waren wie sie. Wenn das so weitergeht, sind sie möglicherweise in ein paar Jahren alle tot.«
    »Vielleicht«, sagte der Lama zum hundertsten Mal, als hätte er überhaupt nicht zugehört, fügte aber gleich darauf hinzu, Grrympr erinnere sich ja auch noch, wie die Yetis das Tal entdeckt hatten. Das konnte nur heißen, dass etwas hier ihnen nicht bekam, etwas in diesem Tal die Yetis umbrachte.
    »So muss es sein …! Könnt Ihr sie retten, Meister?«
    »Vielleicht …«
    Der Lama schloss für einen Moment die Augen und betete, hoffte auf eine Eingebung, um dieses Rätsel zu lösen, und bat um Demut, damit er einsehen konnte, dass nichts von dem, was vom Schicksal bestimmt war, in seiner Hand lag. Er würde tun, was er konnte, aber über Leben und Tod hatte er keine Macht.
    Als diese kurze Meditation beendet war, rieb sich Tensing die Hände mit Schnee sauber und ging zu den Koppeln der Chegnos hinüber, wo er eines der Muttertiere auswählte und molk. Mit seinem Essnapf voller warmer, schaumiger Milch kehrte er zu den Kindern zurück. Er feuchtete einen Zipfel seines Umhangs in der Milch an und steckte ihn einem der Kinder in den Mund. Erst rührte sich das Kleine

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