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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Ziel aus eigener Kraft näher zu kommen. Tensing war froh, denn sein Schüler hatte ihm oft bewiesen, dass er beides besaß.
    Der Prinz begleitete den Mönch nun schon seit zwölf Jahren, schlief in ein Yakfell gewickelt auf dem nackten Fels, aß niemals Fleisch und widmete sich ausschließlich den religiösen und sportlichen Übungen und dem Lernen all dessen, was sein Meister ihm beibringen konnte. Er war glücklich. Er hätte kein anderes Leben führen wollen, und es wurde ihm schwer ums Herz, wenn er daran dachte, dass er bald zurück in die Welt musste. Und doch erinnerte er sich noch gut, wie schrecklich es gewesen war und wie verlassen er sich gefühlt hatte, als er sich mit sechs Jahren in einer Einsiedelei in den Bergen wiederfand, neben einem hünenhaften Fremden, der ihn drei Tage lang hatte weinen lassen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, ihn zu trösten, bis er am Ende keine Tränen mehr hatte. Danach hatte er nicht mehr geweint. Von da an hatte ihm der Hüne die Mutter, den Vater und den Rest seiner Familie ersetzt, er war sein bester Freund geworden, er hatte ihm Tao-Shu beigebracht und war sein spiritueller Meister gewesen. Fast alles, was er wusste, wusste er von ihm.
    Tensing leitete ihn Schritt für Schritt auf dem Weg des Buddhismus, er unterrichtete ihn in der Geschichte seines Landes und den Lehren der Weisen, er zeigte ihm die Natur, die Tiere und die Heilkraft von Pflanzen, er half ihm, seine Sinne zu schärfen und seine Vorstellungskraft zu entwickeln, bildete ihn in Selbstverteidigungaus und lehrte ihn zugleich, den Weg des Friedens zu gehen. Er weihte ihn in die Geheimnisse der Lamas ein und half ihm dabei, sein geistiges und körperliches Gleichgewicht zu finden. Dafür sollte der Prinz zum Beispiel üben, auf den Zehenspitzen, rohe Eier unter den Fersen, mit Pfeil und Bogen zu schießen, oder auch in der Hocke, mit den Eiern in den Kniekehlen.
    »Dass du gut zielen kannst, weiß ich ja, Dil Bahadur, aber du brauchst auch Kraft, du musst sicher stehen und jeden Muskel unter Kontrolle haben«, redete der Lama ihm geduldig zu.
    »Vielleicht bekäme ich mehr Kraft, wenn ich die Eier einfach essen würde, ehrwürdiger Meister«, stöhnte der Prinz, wenn er sie wieder einmal plattgetreten hatte.
    Den größten Wert legte Tensing jedoch auf die spirituelle Ausbildung seines Schülers. Im Alter von zehn Jahren schaffte es der Junge, in einen Trancezustand einzutreten, der ihn auf eine höhere Stufe des Bewusstseins brachte, mit elf konnte er sich durch Gedankenübertragung verständigen und Dinge bewegen, ohne sie zu berühren, mit dreizehn lernte er, sich im Geiste vollständig von der Erde zu lösen. Als er vierzehn Jahre alt war, öffnete ihm sein Meister das dritte Auge auf der Stirn, mit dem er die Aura wahrnehmen konnte. Dafür wurde der Schädelknochen durchbohrt, was eine erbsengroße Narbe auf der Stirn hinterließ.
    »Alles Lebendige sendet Energie aus, ist von einer Aura umgeben, von einer Hülle aus Licht, die für das menschliche Auge unsichtbar ist und nur durch lange Übung von manchen Menschen wahrgenommen werden kann. Vieles lässt sich an Farbe und Form der Aura erkennen«, hatte ihm Tensing erklärt.
    Während der drei folgenden Sommer reiste der Lama mit seinem Schüler durch Indien, Nepal und Bhutan, damit er die Aura der Menschen und Tiere lesen lernte, denen er begegnete; aber nie führte er ihn in die schönen Täler und durch die Terrassen an den Berghängen seines eigenen Landes, nie hinunter ins Verbotene Reich, wohin er erst nach dem Ende seiner Ausbildung zurückkehren sollte.
    Dil Bahadur lernte das Auge auf seiner Stirn so sicher zu nutzen, dass er jetzt, im Alter von achtzehn Jahren, die Heilkraft einer Pflanze, die Gefährlichkeit eines Tieres oder den Gemütszustand eines Menschen an der Aura erkennen konnte.
    In zwei Jahren würde der Prinz zwanzig sein, und dann wäre die Aufgabe seines Meisters erfüllt. Dil Bahadur würde wieder zu seiner Familie zurückkehren und später in Europa studieren, denn er musste noch vieles lernen, was Tensing ihm nicht beibringen konnte und was er als König brauchen würde.
    Tensings ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, aus dem Prinzen einen guten König zu machen und ihm alles beizubringen, was er brauchte, um eines Tages die Botschaften des Goldenen Drachen zu entschlüsseln, und niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass jemand auf der anderen Seite der Erde aus reiner Geldgier alles daransetzen könnte,

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