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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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den Drachen in seine Gewalt zu bekommen. Die Ausbildung war hart und kompliziert, und manchmal verlor der Schüler die Geduld, aber Tensing ließ nicht locker und spornte ihn an, bis sie beide vollkommen erschöpft waren.
    »Ich möchte nicht König werden, Meister«, sagte Dil Bahadur manchmal.
    »Vielleicht möchte mein Schüler dem Thron entsagen, damit er sich nicht weiter schinden muss.« Tensing lächelte.
    »Ich möchte ein Leben in Meditation führen, Meister. Wie soll ich die Erleuchtung erlangen, wenn ich allen Verlockungen der Welt ausgesetzt bin?«
    »Nicht jeder kann Einsiedler sein so wie ich. Dein Karma ist es, König zu werden. Du sollst dich der Erleuchtung auf einem Weg nähern, der weit schwieriger ist als der Weg der Meditation. Du wirst sie suchen müssen, indem du deinem Volk dienst.«
    »Ich möchte nicht von Euch fortgehen, Meister«, sagte der Prinz leise.
    Der Lama tat, als sähe er nicht, dass seinem Schüler die Tränen in den Augen standen.
    »Wunsch und Furcht sind Illusionen, Dil Bahadur, sie haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Du musst lernen, alles loszulassen.«
    »Soll ich auch meine Zuneigung loslassen?«
    »Zuneigung ist wie die Mittagssonne, sie bedarf des Gegenübers nicht, um zu strahlen. Auch die Trennung zwischen allem Lebendigen ist eine Illusion, denn in der Welt ist alles mit allemverbunden. Unser Geist wird immer eins sein, Dil Bahadur.« Aber noch während er das aussprach, entdeckte der Lama zu seiner Überraschung, dass auch er nicht von jeglichem Gefühl frei war, denn Dil Bahadur hatte ihn mit seiner Traurigkeit angesteckt.
    Auch er litt darunter, dass der Zeitpunkt näher rückte, an dem er den Prinzen zurück zu seiner Familie bringen musste, zurück in die Welt und ins Reich des Goldenen Drachen, für dessen Thron er bestimmt war.

VIERTES KAPITEL
Adler und Jaguar
    Alexanders Flugzeug landete an einem heißen Juniabend um Viertel vor sechs in New York. Vergnügt dachte Alex daran zurück, wie er das erste Mal allein in diese Stadt gereist war und ihn ein zwar ziemlich schräg, aber harmlos aussehendes Mädchen bis aufs Hemd ausgeraubt hatte, kaum dass der Flughafen hinter ihm lag. Wie hatte sie noch geheißen? Es fiel ihm nicht mehr ein … Doch: Morgana! Wie diese mittelalterliche Hexe. Seither schienen Jahre vergangen zu sein, dabei war es gerade erst sechs Monate her. Er fühlte sich wie ein anderer Mensch: Er war gewachsen, war selbstsicherer geworden, hatte keine Tobsuchtsanfälle mehr und stellte sich auch nicht mehr vor, besser tot zu sein.
    Die Krise daheim war ausgestanden: Seine Mutter war vom Krebs geheilt, auch wenn die Angst blieb, er könnte wiederkommen. Sein Vater lachte wieder, und seine Schwestern, Andrea und Nicole, waren nicht mehr so kindisch wie früher. Er brauchte sich kaum noch mit ihnen zu streiten; nur gelegentlich, damit sie ihm nicht auf der Nase herumtanzten. Unter seinen Freunden war sein Ansehen gewaltig gestiegen; sogar seine große Flamme Cecilia Burns, die ihn immer wie eine Laus behandelt hatte, bat ihn mittlerweile um Hilfe bei den Mathehausaufgaben. Was man so Hilfe nennt: Er erledigte die meisten Aufgaben für sie und schob ihr bei den Klassenarbeiten sein Blatt hin, und wenn sie ihn dann anstrahlte, fühlte er sich fürstlich entlohnt. Sie schüttelte sich die wallende Mähne aus dem Gesicht, und er bekam rote Ohren. Seit Alex mit halbrasiertem Kopf und einer schicken Narbe vom Amazonas zurückgekehrt war und jede Menge verrückter Geschichten erzählt hatte, stand er in der Schule hoch im Kurs; dennoch hatte er das Gefühl, dort nicht mehr richtig hinzugehören. Sogar wenn er mit seinen Freunden unterwegs war, langweilte er sich manchmal. Seit seiner Rückkehr hatte er Hummeln im Hintern; dieses kalifornische Kaff war doch bloß ein winziger Punkt auf der Landkarte, ein Ort zum Ersticken; er wollte raus, wollte die Welt sehen.
    Sein Erdkundelehrer hatte ihm vorgeschlagen, der Klasse von seinen Erlebnissen in Südamerika zu berichten. Alex war mit dem Blasrohr angerückt, hatte die Pfeile und das Curare allerdings zu Hause gelassen, denn schließlich wollte er keine Toten, aber dafür hatte er die Fotos dabei, auf denen er im Río Negro mit einem Delfin schwamm, einen lebenden Kaiman mit bloßen Händen festhielt und ein Stück Fleisch am Spieß verdrückte. Als die anderen hörten, dass es von einer Anakonda stammte, von der größten Würgeschlange der Welt, kriegten sie Glupschaugen vor Entsetzen und Bewunderung.

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