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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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in die Richtung, aus der er gekommen war, glitt auf einen der schlafenden Männer zu, hatte im Nu mit seinen kleinen, geschickten Fingern eines der Messer aus dem Gürtel des Schlafenden gelöst und brachte es Nadia. Er hockte sich vor sie und behielt die Höhle im Auge, während sie die Fesseln um ihre Knöchel zertrennte. Das Messer schnitt durch den Lederriemen wie durch Butter.
    Kaum war Nadia frei, weckte sie Pema.
    »Zeit, abzuhauen«, flüsterte sie.
    »Wie willst du an der Wache vorbeikommen?«
    »Weiß ich noch nicht, sehen wir dann. Eins nach dem anderen.«
    Aber Pema hielt sie zurück, als sie ihre Fesseln durchtrennen wollte, und flüsterte mit Tränen in den Augen, sie könne nicht fort.
    »Ich würde nicht weit kommen, Nadia. Sieh doch, was ich anhabe, ich kann in den Sandalen nicht rennen. Wenn ich mitgehe, kriegen sie uns beide. Allein hast du bessere Chancen.«
    »Bist du verrückt? Ich kann doch nicht ohne dich gehen!«
    »Du musst es versuchen. Hol Hilfe. Ich darf die anderen nicht im Stich lassen, ich bleibe, bis du zurückkommst. Geh jetzt, ehe es zu spät ist.« Pema zog die Jacke aus und gab sie Nadia wieder.
    Sie wirkte so entschlossen, dass Nadia keinen Versuch mehr unternahm, sie umzustimmen. Ihre Freundin würde die anderen nicht allein hier zurücklassen. Und zu sechst würden sie nie und nimmer ungesehen aus der Höhle kommen; aber allein konnte sie es vielleicht schaffen. Nadia und Pema umarmten sich kurz, und dann stand Nadia ganz vorsichtig auf.
    Die Narbenfrau bewegte sich im Schlaf, sie murmelte etwas, und für einen Moment schien alles verloren, aber gleich darauf schnarchte sie dort weiter, wo sie aufgehört hatte. Nadia blieb eine Weile reglos stehen, bis sie sich sicher war, dass auch alle anderen schliefen, und schob sich dann auf dem gleichen Weg, den Borobá genommen hatte, an der Wand entlang. Sie atmete tief ein und beschwor ihre Fähigkeit zum Unsichtbarwerden.
    ~
    Zusammen mit Alex hatte Nadia eine unvergessliche Zeit bei den Nebelmenschen verbracht, einem geheimnisvollen Indianerstamm, der im Amazonasgebiet ein Leben ohne jeden Kontakt zur Außenwelt führte. Auf den ersten Blick hätte man meinen können, diese Indianer lebten wie in der Steinzeit, aber in mancherlei Hinsicht waren sie sehr fortschrittlich. Sie machten sich nichts aus materiellen Gütern, vertrauten auf die Kräfte der Natur und hatten sich perfekt auf die Lebensbedingungen im Regenwald eingestellt. Wie die Bäume, die Insekten oder der feuchte Waldboden waren auch sie ein Teil des Dschungels. Ihr Glaube, ihre Traditionen, ihr Zusammenhalt untereinander und die Kunst, unsichtbar zu erscheinen, hatten sie jahrhundertelang vor den Einflüssen der Außenwelt bewahrt. Wenn ihnen Gefahr drohte, verschwanden sie einfach. Darin waren sie so geübt, dass eigentlich niemand ernsthaft an die Existenz der Nebelmenschen glaubte, und so gab es in der Gegend zwar Geschichten über den Stamm, aber die erzählte man, wie man Märchen erzählt, und auch das hatte den Nebelmenschen dabei geholfen, sich die Fremden, die aus reiner Neugier oder auf der Suche nach Gold und Diamanten in den Urwald vordrangen, vom Hals zu halten.
    Nadia hatte herausgefunden, dass dieses Unsichtbarwerden nicht bloß eine optische Täuschung war, sondern eine sehr alte Kunst, die ständige Übung erforderte. »Es ist wie beim Flötespielen, das lernt man ja auch nicht von heute auf morgen«, hatte sie zu Alex gesagt, aber der hatte nicht geglaubt, dass man Unsichtbarwerden überhaupt lernen konnte, und es deshalb gar nicht ernsthaft versucht. Sie dagegen fand keinen Grund, warum sie es nicht lernen sollte, schließlich gelang es den Indianern ja auch. Sie wusste, es ging um Tarnung und darum, sich geschmeidig und lautlos zu bewegen und das Terrain genau zu kennen, aber vor allem war es eine Sache des Kopfes. Man musste zu einem Nichts werden, sich vorstellen, wie der Körper durchsichtig wird, bis er bloß noch ein Spuk ist. Man durfte sich keine Sekunde ablenken lassen und musste innerlich so ruhig bleiben, dass eine Art geistige Tarnkappe entstand. Verlor man auch nur für einen Augenblick die Konzentration, war alles dahin. Aber wenn alle Gedanken auf dieses eine Ziel gerichtet blieben, konnte es gelingen.
    In den Monaten, die zwischen ihrer Reise in die Stadt der wilden Götter im südamerikanischen Regenwald und dieser Nacht in einer Höhle im Himalaja lagen, hatte Nadia unermüdlich geübt. Sie hatte so große Fortschritte gemacht, dass

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