Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus
Gericht zurück. Mit seinen jüngsten Aussagen, in denen er sich von früher Gesagtem distanziert, versucht er eine allzu lange Haftstrafe zu umgehen.
Natürlich kam Küssel regelmäßig in die Weitlingstraße. Er wohnte zeitweise bei uns. Den Skinheads versuchte er ständig »eiserne Disziplin« einzuhämmern - mit mäßigem Erfolg. Einmal tauchte er wichtigtuerisch in unserem Haus auf und forderte mich auf, als Hausführer einem ausländischen Kamerateam, das er mitgebracht hatte, sofort ein Interview zu geben. Ich saß aber mit Claudia und ein paar Kumpels völlig bekifft herum und verstand gar nicht genau, was Küssel eigentlich von mir wollte. Ich redete dummes Zeug, so daß Küssel schließlich merkte, was mit mir und den anderen los war. Er regte sich wahnsinnig auf: »Wir kämpfen gegen Mißbrauch, und was machst du als Führungskader? Das hat ein Nachspiel!« Umgehend rief er bei Christian Worch in Hamburg an und beschwerte sich dort über mich. Immer wenn etwas schief lief, rief irgendeiner bei Worch an und beschwerte sich. Worch hielt dann salbungsvolle Reden oder schrieb ellenlange Briefe, mit denen er die Wogen zu glätten versuchte.
Küssel lief ständig mit Hammer und Meißel durch unser Haus. Wir sollten die gesamte Elektrik, die Sanitäreinrichtung und alle Fenster erneuern. Diese Reparaturen sprengten den Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten. Wir sahen uns außerstande, die ständig höhergeschraubten Forderungen der Wohnungsgesellschaft, die uns aus dem Haus haben wollte, zu erfüllen. Aber Küssel sagte immer wieder: »Geld spielt gar keine Rolle, es gibt in Deutschland und Österreich genug Leute, die uns mit Geld unterstützen.« Er träumte von einer Art »braunem Haus« in der Reichshauptstadt, das sollte die Weitlingstraße 122 sein. Deshalb hat er im Sommer 1992 ein Tauschgeschäft zwischen der Wohnungsgesellschaft und den Bewohnern unseres Hauses verhindert. Ich war auf den Vorschlag eingegangen, das Haus gegen neun Einzelwohnungen im Bezirk Lichtenberg einzutauschen. Küssel vereitelte den Tausch, indem er Mike Prötzke und mich als Hausbevollmächtigte kurzerhand absetzte. Aber er konnte das Haus nicht mehr lange halten: Im Dezember flatterte eine Räumungsklage ins Haus, da wir verschiedene Auflagen nicht erfüllt hatten. Silvester 1990 feierten wir eine große Abschiedsparty und schlugen anschließend die Einrichtung kurz und klein.
Die Anwohner der Weitlingstraße werden sich gefreut haben, als wir endlich weg waren. Die Gegend dort ist seitdem wieder viel ruhiger und friedlicher geworden.
Das ungeeignete Projekt des Michael Heinisch
Zu dieser Zeit sprach uns der siebenundzwanzigjährige Sozialdiakon Michael Heinisch irgendwo auf der Straße an. Er erzählte uns, daß er noch Leute für ein Sozialprojekt in der Pfarrstraße 108 suche. Dieses Haus solle von Grund auf saniert werden, und wenn wir mitmachen würden, bekämen wir den üblichen, tariflich gesicherten Arbeitslohn. Wir alle waren arbeitslos und hatten finanzielle Probleme. Mike Prötzke, Frank Lutz, Stinki, mein Bruder Jens und ich sagten sofort zu.
Heinisch stellte uns nur eine Bedingung: alle national ausgerichtete Politik aus dem Projekt herauszulassen. Am 3. Januar 1991 begannen wir mit der Arbeit. Die ganze Häuserreihe auf der anderen Straßenseite war von Autonomen besetzt, es wohnten dort zu dieser Zeit etwa einhundert Linksradikale aus verschiedenen Ländern. Anfangs versuchten die Linken, das Hausprojekt zu stoppen, indem sie uns ständig angriffen. Hooligans hatten in den Monaten davor die Häuser der Linken immer wieder überfallen und auch Autos in die Luft gejagt. Für diese Überfälle machten die Autonomen uns verantwortlich, obwohl wir damit ausnahmsweise nichts zu tun hatten.
Heinisch war bei den meisten von uns vor allem deshalb beliebt, weil er uns Arbeit verschafft hatte. Er ist ein überzeugter Christ, der an das Gute im Menschen glaubt. Sein Haar trug er genauso kurz wie ein Skinhead. Darin sahen einige Linke eine Art der Solidarisierung mit den Rechten, die in der Pfarrstraße arbeiteten, sie nannten ihn spöttisch »Nationalsozialarbeiter«. Ich hatte ihm gegenüber von vornherein gewisse Vorbehalte, ich fand seine Freundlichkeit übertrieben. Heinisch verkündete immer wieder, er werde uns eines Tages auf den richtigen Weg führen. Ich ließ ihn reden und hörte ihm meist gar nicht zu. Ich war froh, einen Arbeitsplatz gefunden zu haben, und der Rest war mir gleichgültig. Heinisch merkte
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