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Die Abschaffung der Arten

Die Abschaffung der Arten

Titel: Die Abschaffung der Arten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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daß er es nicht mehr aushielt, um keinen Preis, für kein Wasser, auch nicht das lebendige, das Jesus der Frau am Brunnen versprochen hatte, das wußte er sicher.
    Täglich derselbe Stumpfsinn, das machte Herrn von Schnaub-Villalila nicht nur beim Brötchenkaufen, sondern insgesamt und überhaupt wahnsinnig.
    Die Sache mit seinem Namen zum Beispiel: Immer wieder begegnete er im Laufe seiner eigentlich sehr interessanten Tätigkeit irgendwelchen Idioten, die es nicht lassen konnten, ungefähr so an ihn heranzutreten: »Ryu von Schnaub-Villalila, das ist ja ein sehr exotischer Name, woher haben Sie den denn?«
    Von Manufactum.
    Bei eBay gewonnen.
    Vom Imperator zugeteilt.
    Woher kriegt man denn Namen, ihr Butterköpfe?
    Mit frühchristlicher Engelsgeduld aber sagte Ryu jedesmal sein Sprüchlein auf, von wegen japanische Mutter, adliger deutscher Vater, diplomatischer Dienst, diverse italienische Vorfahren ...
    Sechsunddreißig Jahre alt, Angestellter eines internationalen Finanzdienstleisters, dort zuständig für Kulturförderung, Ausstellungsmanagement, Preisjuryarbeit, Stiftungsrecht, sonst noch was?
    Sie wollten in Wirklichkeit natürlich überhaupt nichts wissen. Denen war bloß langweilig, mit sich, legitimerweise. Weshalb bade ich das aus? Weil ich dafür bezahlt werde. Und zwar unverschämt hoch.

    Ryu gehörte nicht zu den Menschen, die unter solchen Umständen anfingen, sich Gedanken darüber zu machen, daß es doch mehr geben müßte, wer weiß ... Er drehte lieber vor der Bahnhofsbackwarentheke durch.
    Immerhin, das Mädchen hier – kräftig gebaut, pfirsichrote Backen, ziemlich hübsch eigentlich – war noch nicht völlig abgestorben und deshalb in der Lage, sich gegen den Auftritt zu wehren: »Hören Sie mal, was wollen Sie denn? Ich hab Sie nur gefragt, was es sonst noch sein darf. Also sagen Sie mir's, oder bezahlen Sie das Brötchen.« Vereinzelte Zustimmung aus der Schlange hinter Ryu überspülte sein Rückgrat als eine Art Schamwelle, er wußte einen verstörten Moment lang gar nicht mehr, wie er sich verhalten sollte. Da legte an ihm vorbei eine Hand mit wertvollen Ringen (das sah er gleich, dafür hatte er ein Auge) einen Fünf-Euro-Schein aufs Geldschälchen. Eine Stimme, voll und männlich, sagte, viel zu dicht an Ryus linkem Ohr: »Kommen Sie, was zu trinken kriegen Sie bei mir«, und dann, lauter und befehlsgewohnt, zum Mädchen: »Stimmt so.«

    Ryu kannte den etwa fünfzig Jahre alten Mann im dunklen Winteranzug und leichten Mantel zwar nicht, aber das väterliche Lächeln, die leicht versoffenen, dennoch klaren Augen, das sanfte »Hmm, wollen wir«, mit dem er ihn plötzlich durch die große Halle, ja, was – schob? zog? –, dies alles legte Ryu nahe, daß er ihn eigentlich hätte kennen müssen. Der hier war wichtig.
    »Ich hab ähm Termine«, sagte Ryu schwächlich, wie einer, der Anstalten macht, sich einer Verführung zu verweigern, die er in Wahrheit wünscht. Die Halle war plötzlich ein einziger Grusel: Dem Kind da hing Rotz aus der Nase, die Luft roch nach toten Maden, zwei Männer, die Besteck verkauften, waren ganz sicher Mörder, die Teenager lachten verdorben, das Zugpersonal wählte Hitler.

    Ryu war mitunter für diese Art Schrecken mitten im Gewöhnlichsten überaus empfänglich.
    Einmal, beim Lesen der »Ermittlung« von Peter Weiss, war ihm an der Stelle plötzlich schlecht geworden, wo eine ehemalige Nazigröße dem Gericht mitteilt, sie »sammle Porzellan Gemälde Stiche / sowie Gegenstände bäuerlichen Brauchtums«. Reichlich unerbeten hatte sich daran in Ryus Kopf die Frage entzündet, ob das nicht genau Ryus Kundschaft war, ob nicht die Kunstsinnigen von heute die Massenmörder und ihre Finanziers von morgen waren, so wie die Schöngeister von gestern die Massenmörder und ihre Finanziers von vorgestern gewesen waren.
    Genauer hinsehen: Einer der beiden Besteckverkäufer hatte keinen natürlichen Unterkiefer, sondern irgend etwas Künstliches überm Hals hängen (Porzellan Gemälde Stiche), und die Mädchen, die so kreischten, waren teils blaß, als würden sie gerade ausgeblendet, und der Rotz auf der Oberlippe des Kindes schien blutig. »Sehen Sie das auch? Wir sollten schnell hier weg«, sagte der Mann, von dem Ryu plötzlich dachte: Mein Chef. Mein ... König? Klang richtig. Wie das?

    Freilich, wir sollten schnell hier weg, aber was ist eigentlich »hier« und wer sind »wir«, bin ich Faust, ist er Mephisto, Einflüsterer aus dem großen Ganzwoanders, der

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