Die achte Karte
einzutippen.
Meredith dachte einen Moment darüber nach, ob sie versuchen sollte, die zehn Karten von gestern in der Stille und Ruhe ihrer eigenen Gedanken zu legen, weil sie dann vielleicht mehr darin entdecken würde, entschied sich aber dagegen. Sie interessierte sich weniger für das Kartenlegen an sich als viel mehr für die historischen Informationen, die sie über das Bousquet-Tarot zusammengetragen hatte, und dafür, was die Karten mit der Geschichte der Domaine de la Cade, der Verniers und der Familie Lascombe zu tun hatten.
Meredith ging den Packen durch, bis sie alle zweiundzwanzig großen Arkana gefunden hatte. Sie schob die übrigen Karten beiseite und ordnete die großen Arkana in drei Reihen übereinander an, wobei sie den Narren ganz oben allein hinlegte, genau wie Laura das getan hatte. Die Karten fühlten sich anders an. Gestern hatten sie sie nervös gemacht. Als ginge sie schon allein dadurch, dass sie sie berührte, eine Verpflichtung ein. Heute kamen sie ihr – und sie wusste, wie albern das war – irgendwie wohlgesinnt vor.
Sie holte die gerahmte Fotografie unter ihrer Jacke hervor, stellte sie aufrecht vor sich auf den Schreibtisch und studierte die schwarz-weißen Figuren, in der Zeit erstarrt. Dann senkte sie den Blick auf die farbigen Bilder der Karten.
Einen Moment verweilte ihre Aufmerksamkeit bei Le Pagad, mit seinen überaus blauen Augen und dem vollen schwarzen Haar, der alle Symbole des Tarots um sich versammelte. Ein attraktives Bild – aber ein Mann, dem man trauen konnte?
Dann spürte sie wieder dieses Prickeln im Nacken, das sich an ihrer Wirbelsäule hinabschlängelte, während ihr eine neue Idee kam. War das möglich? Sie legte den Magier auf eine Seite. Sie griff nach Karte 0 , Le Mat, und hielt sie neben das gerahmte Foto. Jetzt, wo sie sie direkt nebeneinander sah, hatte sie keinen Zweifel, dass der Mann »Monsieur Vernier« wie aus dem Gesicht geschnitten war. Der gleiche lässige Gesichtsausdruck, die schlanke Figur, der schwarze Schnurrbart.
Als Nächstes Karte II , La Prêtresse. Die ätherischen, blassen, distanzierten Gesichtszüge von »Madame Lascombe«, aber in einem Abendkleid mit tiefem Ausschnitt und nicht in der hochgeschlossenen Alltagsgarderobe auf dem Foto. Meredith schaute erneut nach unten und sah die beiden Figuren zusammen als Liebende, die zu Füßen des Teufels angekettet waren.
Und endlich Karte VIII , La Force: »Mademoiselle Léonie Vernier«.
Meredith merkte, dass sie lächelte. Zu dieser Karte spürte sie die stärkste Verbindung, fast so, als kenne sie die junge Frau. Teilweise lag das wohl daran, dass Léonie ihrem geistigen Bild von Lilly Debussy ähnelte. Léonie war jünger, aber da war die gleiche großäugige Unschuld, das gleiche, volle kupferrote Haar, obwohl es auf der Karte nicht sittsam hochgesteckt war, sondern offen getragen wurde und ihr über die Schultern fiel. Aber vor allem war da die gleiche freimütige Art, direkt in die Kamera zu blicken.
Ein kurzes Aufflackern von Begreifen rührte sich unter der Oberfläche ihres Bewusstseins, war aber wieder verschwunden, ehe Meredith es zu fassen bekam.
Sie konzentrierte sich auf die anderen Karten der großen Arkana, an die sie im Verlauf des Vormittags erinnert worden war: der Teufel, der Turm, der Eremit, der Herrscher. Sie betrachtete sie nacheinander, empfand aber immer stärker das Gefühl, dass sie sie weiter von dem Punkt wegbrachten, wo sie hinwollte, nicht näher.
Meredith lehnte sich zurück. Der alte Sessel quietschte. Sie legte die Arme hinter den Kopf und schloss die Augen.
Was habe ich übersehen?
Sie versetzte sich in Gedanken zurück zu der Sitzung. Ließ Lauras Worte über sie hinwegfluten, ohne besondere Ordnung, gab den Mustern Raum, sich zu entfalten.
Oktaven. Alle Achten.
Acht war die Zahl der Vollkommenheit, des gelungenen Ausgangs. Es gab aber auch eine deutliche Botschaft von Störung, Hindernissen und Konflikt. In älteren Tarotdecks trugen sowohl die Kraft als auch die Gerechtigkeit die Zahl Acht. Sowohl La Justice als auch Le Pagad trugen das Unendlichkeitssymbol, wie eine liegende Acht.
Musik verknüpfte alles miteinander. Ihren Familienhintergrund, das Bousquet-Tarot, die Verniers, die Sitzung in Paris, das Notenblatt mit der Klaviermusik. Sie griff nach ihrem Notizbuch und blätterte zurück, bis sie den Namen fand, den sie suchte, den amerikanischen Kartenleger, der Tarot mit Musik verknüpft hatte. Sie schaltete ihren Laptop an und
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