Die achte Karte
beide Handschuhe aus und nahm den durchweichten Hut ab.
Als ihre Augen sich allmählich an das Halbdunkel gewöhnten, sah Léonie erleichtert, dass noch andere in der Kirche Schutz vor dem Gewitter gesucht hatten. Es war eine seltsame Versammlung. Im Hauptschiff und in den Seitenkapellen drängten sich schweigend Menschen. Ein feiner Herr mit Zylinder und Mantel, am Arm eine Dame, saß kerzengerade auf einer der Bänke, als hätten beide einen unangenehmen Geruch in der Nase. Bewohner des
quartier,
viele ohne Schuhe und unzureichend gekleidet, saßen auf den Steinplatten. Léonie sah sogar einen Esel und eine Frau mit zwei Hühnern, eins unter jedem Arm.
»Ein ungewöhnlicher Anblick«, sagte eine Stimme neben ihrem Ohr. »Aber man darf schließlich nicht vergessen, dass Zuflucht allen gewährt wird, die sie suchen.«
Léonie schrak zusammen, als sie so direkt angesprochen wurde, fuhr herum und sah einen Herrn neben sich stehen. Sein grauer Zylinder und sein Gehrock verrieten seinen Stand ebenso wie der Stock mit einem Knauf und einer Spitze aus Silber und die Ziegenlederhandschuhe. Die selbstverständliche Eleganz seiner Garderobe ließ seine blauen Augen noch auffälliger wirken. Einen Augenblick lang dachte Léonie, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Dann wurde ihr klar, dass es nur an einer gewissen Ähnlichkeit zu ihrem Bruder lag, was Haarfarbe, Teint und Gesichtszüge anging, obwohl der Mann breiter und kräftiger gebaut war.
Aber er hatte noch etwas an sich, irgendetwas in seinem unverwandten Blick und dem listigen Gesicht, das in Léonies Brust einen recht unerwarteten Aufruhr auslöste. Ihr Herz schlug ein wenig fester, und sie spürte, wie ihre Haut unter der durchnässten Kleidung plötzlich warm wurde.
»Ich …« Sie errötete und senkte den Blick.
»Verzeihen Sie, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, sagte er. »Unter normalen Umständen würde ich selbstverständlich niemals eine Dame ansprechen, ohne ihr vorgestellt worden zu sein. Nicht einmal an einem Ort wie diesem.« Er lächelte. »Aber die Umstände sind ein wenig ungewöhnlich, nicht wahr?«
Seine Höflichkeit beruhigte sie. Sie hob den Blick. »Ja«, pflichtete sie bei. »Das sind sie wahrhaftig.«
»Und in dieser Lage, wo wir als Reisende vor dem Unwetter Schutz suchen, dachte ich, dass die normalen Regeln der Etikette vielleicht kurzzeitig außer Kraft gesetzt sind.« Er zog den Hut, zeigte eine hohe Stirn und glänzendes Haar, das akkurat bis zum Rand des Stehkragens geschnitten war. »Könnten wir also für die Dauer unseres Aufenthaltes hier Freundschaft schließen? Ich hoffe, Sie empfinden mein Ersuchen nicht als anstößig.«
Léonie schüttelte den Kopf. »Nicht im Geringsten«, sagte sie deutlich. »Außerdem könnten wir ja gezwungen sein, noch geraume Zeit hier zu verweilen.«
Sie fand, dass ihre Stimme angespannt klang, zu hoch, zu dünn, alles andere als gefällig, und das ärgerte sie. Doch der Fremde lächelte und schien es gar nicht zu bemerken.
»Durchaus.« Er sah sich um. »Aber um die Anstandsformen zu wahren, dürfte ich mir vielleicht doch erlauben, mich Ihnen vorzustellen, dann sind wir keine Fremden mehr. Und Ihre Begleiterin muss sich keine Sorgen machen.«
»Oh, ich bin …« Léonie bremste sich. Es wäre nicht gerade klug, ihm zu verraten, dass sie allein war. »Ich wäre gern bereit, Ihre Vorstellung anzunehmen.«
Mit einer leichten Verbeugung zog er eine Visitenkarte aus der Tasche. »Victor Constant, Mademoiselle.«
Als Léonie die elegante Karte mit Prägedruck entgegennahm, durchlief sie ein aufgeregter Schauder, den sie zu kaschieren versuchte, indem sie den Namen auf der Karte studierte. Sie überlegte, was sie Amüsantes sagen könnte. Außerdem wünschte sie, sie hätte sich nicht die Handschuhe ausgezogen. Unter seinen türkisblauen, eindringlichen Augen fühlte sie sich schon fast unbekleidet.
»Und dürfte ich vielleicht so kühn sein, nach Ihrem Namen zu fragen?«
Ein Lachen entwich ihren Lippen. »Natürlich. Wie dumm von mir. Es tut mir leid, aber … Ich habe meine Visitenkarten nicht dabei«, log sie, ohne sich zu fragen, warum. »Ich bin Léonie Vernier.«
Constant nahm ihre nackte Hand und hob sie an seine Lippen.
»Enchanté.«
Das Gefühl, wie sein Mund ihre Haut streifte, fuhr Léonie durch den ganzen Körper. Sie hörte sich selbst nach Luft schnappen und spürte dann, wie ihr die Röte in die Wangen schoss, eine offensichtliche Reaktion, die ihr peinlich
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