Die achte Karte
lediglich, wie heruntergekommen die ursprüngliche Cité war. Wahrscheinlich hoffte man, so vermutete sie zumindest, dass sich die Atmosphäre verändern würde, wenn die Arbeiten endlich abgeschlossen waren. Dass neue Restaurants, Geschäfte, vielleicht sogar ein Hotel, wieder Leben in die verwinkelten Gassen bringen würden. Léonie schlenderte weiter umher. Ein paar Besucher wie sie, Damen, die sich die Hände in Pelzmuffs warm hielten, Herren mit Gehstöcken und Zylindern wünschten ihr einen guten Tag.
Der Wind war jetzt noch stärker geworden, und Léonie sah sich genötigt, ihr Taschentuch hervorzuholen und es vor Mund und Nase zu halten, um sich einigermaßen gegen die nasskalte Luft zu schützen. Nach einem Zickzackkurs durch eine
chicane
stand sie unvermutet an einem alten Steinkreuz, von wo aus sie über terrassenartig angelegte Gärten mit Gemüsebeeten, Weinstöcken, Hühner- und Kaninchenställen blicken konnte. Unterhalb davon drängten sich einige kleine Häuser.
Von dieser Stelle aus konnte sie deutlich sehen, wie hoch der Fluss stand. Eine rastlose, wirbelnde schwarze Wassermasse jagte durch die Mühlen, wirbelte die Schaufelräder herum. Weiter hinten breitete sich die Bastide vor ihren Augen aus. Sie erkannte die Turmspitze der Kathedrale Saint-Michel und den hohen, dünnen Glockenturm der Église de Saint-Vincent unweit ihres Hotels. Ein banges Gefühl durchfuhr Léonie. Sie schaute zu dem düsteren Himmel auf und begriff plötzlich, dass sie durch die steigenden Fluten hier von der anderen Flussseite abgeschnitten werden konnte. Die Basse Ville kam ihr mit einem Mal sehr weit entfernt vor. Die Geschichte, die sie sich für Anatole zurechtgelegt hatte, dass sie die Orientierung verloren und sich in den Gässchen der Bastide verlaufen hätte, würde als Ausrede nicht zählen, falls der Fluss über die Ufer trat und sie nicht mehr zurückkonnte.
Eine Bewegung über ihrem Kopf ließ sie aufblicken. Ein herbstlicher Krähenschwarm flog, schwarz vor dem grauen Himmel, zu den Mauertürmen und Zinnen hinauf, kämpfte gegen den Wind an.
Léonie hastete los. Der erste Regentropfen landete auf ihrer Wange, dann noch einer und noch einer, immer schneller, schwerer, kälter. Dann ein Graupelschauer und ein einzelner, jäher Donnerschlag. Mit einem Mal war ringsum Wasser.
Das Unwetter, das so lange gedroht hatte, war da.
Kapitel 59
∞
L éonie hielt hektisch nach einem Unterstand Ausschau, aber vergeblich. Auf halber Strecke den steilen Kopfsteinweg hinunter, der die Zitadelle mit dem
quartier
Barbacane weiter unten verband, standen weder Bäume noch irgendwelche Gebäude. Ihre müden Beine sträubten sich bei dem Gedanken, wieder hinauf in die Cité zu steigen.
Ich muss weiter nach unten.
Sie stolperte die
calada
hinab und hielt dabei die Röcke über die Knöchel, damit sie nicht vom Wasser durchnässt wurden, das jetzt über das Pflaster rauschte wie durch einen Mühlgraben. Der Wind pfiff ihr um die Ohren und blies den Regen unter ihre Hutkrempe, ihr Umhang flatterte und verfing sich zwischen ihren Beinen.
Sie bemerkte die beiden Männer nicht, die neben dem Kreuz oben am Ende des Hanges standen und sie beobachteten. Einer war gut gekleidet, eindrucksvoll und elegant, ein Mann von Rang und Ansehen. Der andere war klein und dunkel, eingehüllt in einen dicken napoleonischen Umhang. Sie wechselten ein paar Worte. Glänzende Münzen wechselten von einer behandschuhten Hand in die schmutzigen Handflächen des älteren Soldaten, dann trennten die beiden Männer sich. Der Soldat verschwand in der Cité.
Der vornehme Herr folgte Léonie nach unten.
Als Léonie den Place Saint-Gimer erreichte, war sie nass bis auf die Haut. Da kein Restaurant oder Café in der Nähe war, konnte sie sich nur in die Kirche flüchten. Sie eilte die reizlosen neumodischen Stufen hinauf, und schlüpfte durch ein offenstehendes Eisentor in dem schwarzen Gitterzaun.
Ein paar Schritte weiter war die hölzerne Kirchentür. Léonie stieß sie auf und trat ein. Obwohl Kerzen auf dem Altar und in den Seitenkapellen brannten, fröstelte sie. Drinnen war es noch kälter als draußen. Sie stampfte mit den Füßen auf, um möglichst viel Regen abzuschütteln, atmete den Geruch von nassem Stein und Weihrauch ein. Sie zögerte, doch da sie womöglich eine ganze Weile in der Église Saint-Gimer würde ausharren müssen, entschied sie, dass es wichtiger war, sich nicht zu erkälten, als auf ihr Äußeres zu achten, also zog sie
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