Die achte Karte
gerufen worden war, um den Dämon der Grabkapelle zu bannen, und der ihren Onkel angefleht hatte, die Tarotkarten zu vernichten. Bérenger Saunière.
Hier hatte sie den Beweis, dass ihr Onkel seinen Rat missachtet hatte, genau wie Monsieur Baillard es ihr kaum eine halbe Stunde zuvor erzählt hatte.
»Madomaisèla. Madomaisèla Léonie?«
Erschrocken fuhr Léonie herum, als sie ihren Namen hörte.
»Madomaisèla?«
Es waren Pascal und Marieta. Offenbar hatten die beiden sich auf die Suche nach ihr gemacht, weil sie längst hätte zu Hause sein müssen. Rasch wickelte sie die Karten wieder in das Tuch. Sie hätte sie gern mitgenommen, aber sie hatte keine Möglichkeit, sie irgendwo am Körper zu verstecken.
Mit großem Widerwillen, aber es sollte ja schließlich niemand wissen, was sie gefunden hatte, legte sie die Karten in die Schatulle, stellte die Schatulle wieder in die Kiste, die sie zurück in das Loch schob.
Dann richtete sie sich auf und begann, mit ihren ohnehin schon verdreckten Schuhen Erde darüber zu häufen. Als sie fast fertig war, warf sie auch noch ihre verschmutzten Handschuhe auf den Boden und deckte auch diese zu.
Sie musste darauf vertrauen, dass wohl niemand ausgerechnet jetzt die Karten finden würde, nachdem sie so lange unentdeckt geblieben waren, und nahm sich vor, im Schutz der Dunkelheit zurückzukommen, um die Karten zu holen.
»Madomaisèla Léonie?«
Sie hörte die Panik in Marietas Stimme.
Léonie machte kehrt, kletterte auf die Plattform und eilte den Waldpfad zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war, auf die Stimmen der Dienstboten zu. Sie bog von dem Pfad ab und lief in den Wald hinein, um ihnen keinen Hinweis zu liefern, wo sie hergekommen war. Schließlich, als sie glaubte, genug Abstand zwischen sich und den Schatz gebracht zu haben, blieb sie stehen, verschnaufte und rief dann: »Ich bin hier. Marieta! Pascal! Hier bin ich!«
Augenblicke später tauchten ihre besorgten Gesichter zwischen den Bäumen auf. Angesichts von Léonies Kleidung blieb Marieta wie angewurzelt stehen, unfähig, ihre Überraschung und ihren Schreck zu verbergen.
»Ich habe meine Handschuhe verloren.« Die spontane Lüge ging Léonie leicht über die Lippen. »Ich musste zurück und sie suchen.«
Marieta betrachtete sie prüfend. »Und haben Sie sie gefunden, Madomaisèla?«, fragte sie.
»Leider nein.«
»Ihre Kleidung.«
Léonie sah an sich herab auf ihre schlammigen Schuhe, die schmutzigen Unterkleider und Röcke, an denen Erde und Flechten klebten. »Ich bin gestrauchelt und auf dem feuchten Boden ausgerutscht, mehr nicht.«
Sie sah Marieta an, dass sie an der Erklärung zweifelte, doch das Mädchen hielt klugerweise den Mund. Schweigend gingen sie zum Haus zurück.
Kapitel 74
∞
L éonie blieb kaum noch Zeit, sich die schmutzigen Fingernägel zu bürsten und sich frische Sachen anzuziehen, bevor die Glocke zum Mittagessen läutete.
Isolde aß mit ihnen im Speisezimmer. Sie war ganz begeistert von den Dingen, die Léonie für sie in der Stadt besorgt hatte, und schaffte es, ein bisschen Suppe zu essen. Als sie fertig waren, bat sie Léonie, ihr Gesellschaft zu leisten. Léonie kam der Bitte gern nach, doch während sie plauderten und Karten spielten, war sie in Gedanken woanders. Sie schmiedete Pläne, wie sie in den Wald zurückkehren könnte, um die Karten zu holen. Und wie sie einen weiteren Ausflug nach Rennes-les-Bains arrangieren könnte.
Der Rest des Tages verging friedlich. Gegen Abend bewölkte sich der Himmel, und es gab einige Regenschauer unten im Tal und über der Stadt, doch die Domaine de la Cade bekam wenig davon mit.
Am folgenden Morgen schlief Léonie länger als sonst.
Als sie auf den Flur trat, sah sie Marieta, die gerade das Körbchen mit der Post durch die Halle in den Speisesaal trug.
Sie hatte keinerlei Grund zu der Annahme, dass Monsieur Constant ihre Adresse irgendwie herausgefunden haben könnte und ihr direkt geschrieben hatte. Im Grunde fürchtete sie das Gegenteil – dass er sie völlig vergessen hatte. Aber da Léonie in einem unaufhörlichen Nebel aus Sehnsucht und romantischen Vorstellungen lebte, malte sie sich rasch irgendwelche verdrießlichen und misslichen Umstände aus.
Obwohl also gar nicht die Hoffnung bestand, dass ein Brief aus Carcassonne für sie eingetroffen war, stürmte sie dennoch mit dem Vorsatz die Treppe hinunter, Marieta abzufangen. Sie fürchtete – und hoffte doch zugleich –, das Wappen zu sehen, das
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