Die achte Karte
schlug lediglich vor, sie solle sich an den Gärtner wenden, der jetzt irgendwo im Park arbeiten müsste.
»Vielen Dank. Ich werde ihn fragen«, sagte Meredith, wickelte sich den Schal fester um den Hals und ging durch die Glastür auf die Terrasse. Der frühmorgendliche Nebel hatte sich fast aufgelöst, doch noch immer glitzerte silbriger Tau auf dem Gras. Alles war in rotgoldenes Licht getaucht, und darüber spannte sich ein kühler Himmel, an dem rosa und weiße Wolken trieben.
Schon jetzt lag der würzige Geruch der Allerheiligenfeuer in der Luft. Meredith sog ihn ein, und die herbstlichen Aromen versetzten sie zurück in ihre Kindheit. Sie und Mary, wie sie eifrig Gesichter in Kürbisse schnitzten, um Laternen daraus zu machen. Wie sie ihr Halloween-Kostüm anzog. Meistens gingen sie und ihre Freundinnen als Gespenster verkleidet, ein weißes Laken mit zwei Augenlöchern und einem gruseligen, mit schwarzem Filzstift aufgemalten Mund.
Während sie leichtfüßig die Stufen zu dem Kiesweg hinunterlief, fragte sie sich, was Mary jetzt wohl gerade tat. Dann rief sie sich zur Vernunft. Zu Hause war es ja erst Viertel nach fünf. Mary schlief bestimmt noch. Vielleicht würde sie sie später anrufen und ihr ein schönes Halloween wünschen.
Der Gärtner war nirgends zu sehen, aber seine Schubkarre stand da. Meredith schaute sich um, ob er nicht doch irgendwo in der Nähe war, doch vergeblich. Nach kurzem Zögern nahm sie eine kleine Schaufel, die oben auf dem Laub lag, steckte sie in die Tasche und marschierte über den Rasen Richtung See. Sie würde sie so bald wie möglich zurückbringen.
Es war merkwürdig, aber sie hatte das Gefühl, den Schritten der Gestalt zu folgen, die sie früher am Morgen gesehen hatte.
Wirklich gesehen? Oder bloß in meiner Phantasie?
Unwillkürlich drehte sie sich wiederholt zum Hotel um, blieb einmal sogar stehen und suchte nach ihrem Fenster, um einzuschätzen, ob es aus der Entfernung überhaupt möglich war, das zu sehen, was sie meinte, gesehen zu haben.
Als sie um die linke Seite des Sees herumging, merkte sie, dass der Boden anstieg. Sie ging einen grasbewachsenen Hang zu einer kleinen Landzunge hinauf, die sich genau gegenüber dem Hotel über das Wasser erhob. Es kam ihr verrückt vor, aber sie war überzeugt, dass die Gestalt genau hier gestanden hatte.
In meiner Phantasie.
Auf einer Steinbank in Form eines Halbmondes glitzerte Tau. Meredith wischte ihn mit ihren Handschuhen ab und setzte sich. Wie immer, wenn sie in der Nähe von Wasser war, musste sie an Jeannette denken und daran, wie sie ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Sie war in den Lake Michigan gegangen, die Taschen mit Steinen beschwert. Genau wie Virginia Woolf, wie Meredith Jahre später auf der Highschool gelernt hatte, obwohl sie nicht glaubte, dass ihrer Mutter das bewusst gewesen war.
Doch während Meredith dasaß und über den See blickte, stellte sie erstaunt fest, wie friedvoll sie sich fühlte. Sie dachte an ihre leibliche Mutter, aber ohne die üblichen Schuldgefühle. Kein laut pochendes Herz, keine jähe Scham, keine Reue. Der Ort hier war zum Nachdenken wie geschaffen, ruhig und ungestört. Das Krächzen der Krähen in den Bäumen, das schrillere Zwitschern der Drosseln in der dichten hohen Buchsbaumhecke hinter ihr, durch die Wasserfläche vom Haus getrennt, und doch deutlich zu sehen.
Sie blieb noch eine Weile sitzen, raffte sich dann auf und ging weiter. Zwei Stunden zuvor war sie frustriert gewesen, weil sie nicht hatte losziehen können, um sich auf die Suche nach der Ruine der Grabkapelle zu machen. So wie Shelagh O’Donnell sich im Hotel verhalten hatte, würde Hal mit Sicherheit alle Hände voll zu tun haben und nicht vor ein Uhr zurück sein.
Sie holte ihr Handy hervor, vergewisserte sich, dass sie Empfang hatte, und steckte es wieder ein. Er konnte sie erreichen, falls er sich bei ihr melden wollte.
Vorsichtig, um auf dem nassen Gras nicht auszurutschen, ging sie den Hang hinunter, bis sie auf ebenem Boden dicht am Ufer war, und schaute sich um. In einer Richtung führte ein Weg um den See und zurück zum Haus, in der anderen ein weniger benutzter Pfad in den Buchenwald.
Meredith wandte sich nach links. Minuten später war sie schon tief zwischen den Bäumen und ging über sonnengesprenkelten Boden. Sie gelangte zu einer Stelle, wo sich etliche Wege kreuzten, die alle ziemlich gleich aussahen. Manche führten bergauf, andere schienen sich hinunter ins Tal zu schlängeln. Sie
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