Die achte Karte
Fragenden bevorzugen modernere Decks.«
Meredith zog die Augenbrauen hoch. »Fragende?«
»Ganz richtig.« Laura schmunzelte. »Die Personen, die sich die Karten legen lassen.«
»Ach so.«
Meredith ließ den Blick über die Reihe gleiten und zeigte dann auf ein Deck, das etwas kleiner war als die übrigen. Die Karten hatten wunderschöne dunkelgrüne Rückseiten mit filigranen goldenen und silbernen Linien.
»Was ist das da für eins?«
Laura lächelte. »Das ist das Bousquet-Tarot.«
»Bousquet?«, wiederholte Meredith. Eine Erinnerung schlängelte sich durch ihren Kopf. Sie war sicher, dass sie schon einmal irgendwo auf diesen Namen gestoßen war. »Ist das der Name des Künstlers?«
Laura schüttelte den Kopf. »Nein, so hieß der erste Verleger, der das Deck herausgegeben hat. Keiner weiß, wer der Künstler war oder wer die Karten anfänglich in Auftrag gegeben hat. Im Grunde wissen wir nur, dass es ganz am Ende des neunzehnten Jahrhunderts irgendwo in Südwestfrankreich entstanden ist.«
Meredith spürte ein Prickeln im Nacken.
»Wo genau?«
»Das weiß ich wirklich nicht mehr. Irgendwo in der Umgebung von Carcassonne, glaube ich.«
»Davon habe ich schon gehört«, antwortete Meredith und stellte sich die Landkarte der Gegend vor. Rennes-les-Bains lag mittendrin.
Plötzlich merkte sie, dass Laura sie mit wachsamen Augen betrachtete.
»Gibt es da etwas …?«
»Nein, schon gut«, sagte Meredith. »Der Name kam mir nur irgendwie bekannt vor, mehr nicht.« Sie lächelte. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung.«
»Ich wollte gerade sagen, dass der ursprüngliche Kartensatz zumindest teilweise sehr viel älter ist. Wir wissen nicht genau, wie authentisch die Bilder tatsächlich sind, da die großen Arkana Elemente enthalten, die vermutlich später hinzugefügt oder zumindest abgeändert wurden. Die Zeichnungen und die Kleidung der Figuren auf bestimmten Karten entsprechen dem Stil des Fin de Siècle, wohingegen die kleinen Arkana klassischer sind.«
Meredith runzelte die Stirn. »Große Arkana, kleine Arkana?« Sie lächelte. »Es tut mir leid, aber ich verstehe wirklich überhaupt nichts davon. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, bevor wir weitermachen?«
Laura lachte. »Selbstverständlich.«
»Gut, fangen wir ganz von vorn an. Wie viele Karten gibt es?«
»Bis auf einige unbedeutende moderne Ausnahmen hat ein normales Tarotdeck achtundsiebzig Karten, die in große und kleine Arkana unterteilt sind. Das lateinische Wort
arcana
bedeutet ›Geheimnisse‹. Die großen Arkana, insgesamt zweiundzwanzig Karten, sind von eins bis einundzwanzig durchnummeriert – der Narr hat keine Nummer. Sie sind einzigartig fürs Tarot. Jede Karte trägt ein allegorisches Bild und hat eindeutige narrative Bedeutungen.«
Meredith blickte auf die Broschüre mit dem Bild von La Justice.
»Wie dies da, zum Beispiel.«
»Genau. Die übrigen sechsundfünfzig Karten, die kleinen Arkana, sind in vier Farben unterteilt und sind mit herkömmlichen Spielkarten vergleichbar, nur dass sie eine zusätzliche Hofkarte haben. In einem normalen Tarotdeck haben wir König, Königin und Ritter, dann die zusätzliche Karte – den Pagen oder Buben – plus zehn. Unterschiedliche Decks bezeichnen die Farben anders – Pentakel oder Münzen, Kelche, Stäbe oder Stöcke und Schwerter. Grob gesagt, entsprechen sie den Farben der üblichen Spielkarten, Karo, Herz, Kreuz und Pik.«
»Alles klar.«
»Die meisten Experten sind sich einig, dass die ersten Tarotkarten, die denjenigen ähneln, die wir heute haben, Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts in Italien entstanden sind. Die Renaissance des modernen Tarot begann jedoch erst Anfang des letzten Jahrhunderts, als der englische Okkultist Arthur Edward Waite einen neuen Kartensatz kreierte. Seine wichtigste Neuerung bestand darin, dass er zum ersten Mal jede der achtundsiebzig Karten mit einer individuellen und symbolischen Szene ausstattete. Bis dahin trugen die kleinen Arkana nur Zahlen.«
»Und das Bousquet-Tarot?«
»Die Hofkarten der vier Farben sind bebildert. Der Malstil lässt vermuten, dass sie auf das späte sechzehnte Jahrhundert zurückgehen. Ganz sicher vor Waite. Aber mit den großen Arkana verhält es sich anders. Wie gesagt, die Kleidung der Figuren ist eindeutig europäisch, spätes neunzehntes Jahrhundert.«
»Wie kommt das?«
»Im Allgemeinen wird vermutet, dass der Verleger – Bousquet – keinen kompletten Kartensatz hatte, mit dem er arbeiten konnte,
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